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1Kapitel
Theodor wuchs im Hause seines Vaters heran, des Bahnzollrevisors und
gewesenen Wachtmeisters Wilhelm Lohse. Der kleine Theodor war ein
blonder, strebsamer und gesitteter Knabe. Er hatte die Bedeutung, die er
später erhielt, sehnsüchtig erhofft, aber niemals an sie zu glauben gewagt.
Man kann sagen: er übertraf die Erwartungen, die er niemals auf sich gesetzt
hatte.
Der alte Lohse erlebte die Größe seines Sohnes nicht mehr. Dem
Bahnzollrevisor war nur vergönnt gewesen, Theodor in der Uniform eines
Reserveleutnants zu schauen. Mehr hatte sich der Alte niemals gewünscht. Er
starb im vierten Jahre des großen Krieges, und den letzten Augenblick seines
Lebens verherrlichte der Gedanke, daß hinter dem Sarge der Leutnant
Theodor Lohse schreiten würde.
Ein Jahr später war Theodor nicht mehr Leutnant, sondern Hörer der
Rechte und Hauslehrer beim Juwelier Efrussi. Im Hause des Juweliers bekam
er jeden Tag weißen Kaffee mit Haut und eine Schinkensemmel und jeden
Monat ein Honorar. Es waren die Grundlagen seiner materiellen Existenz.
Denn bei der Technischen Nothilfe, zu deren Mitgliedern er zählte, gab es
selten Arbeit, und die seltene war hart und mäßig bezahlt. Vom
wirtschaftlichen Verband der Reserveoffiziere bezog Theodor einmal
wöchentlich Hülsenfrüchte. Diese teilte er mit Mutter und Schwestern, in
deren Hause er lebte, geduldet, nicht wohlgelitten, wenig beachtet und, wenn
es dennoch geschah, mit Geringschätzung bedacht. Die Mutter kränkelte, die
Schwestern gilbten, sie wurden alt und konnten es Theodor nicht verzeihen,
daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht
genannter Held zu fallen, erfüllt hatte. Ein toter Sohn wäre immer der Stolz
der Familie geblieben. Ein abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der
Revolution war den Frauen lästig. Es lebte Theodor mit den Seinigen wie ein
alter Großvater, den man geehrt hätte, wenn er tot gewesen wäre, den man
geringschätzt, weil er am Leben bleibt.
Manches Ungemach hätte ihm erspart bleiben können, wenn zwischen ihm
und seinem Hause nicht die wortlose Feindschaft wie eine Wand gestanden
wäre. Er hätte den Schwestern sagen können, daß er sein Unglück nicht selbst
verschuldete; daß er die Revolution verfluchte; daß er einen Haß gegen
Sozialisten und Juden nährte; daß er jeden seiner Tage wie ein schmerzendes
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Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92