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18
Kapitel
Wie liebte er diese Zeit, Benjamin Lenz, diese Menschen. Wie wuchs er unter
ihnen, gedieh, sammelte Macht, sammelte Geheimnisse, sammelte Geld,
sammelte Freuden, sammelte Haß. Sein lauerndes Auge trank das Blut
Europas, sein halbhöriges Ohr den Klang der Waffen, den scharfen Knall der
Schüsse, das Heulen der Gewalt, das letzte Gestöhn der Sterbenden und die
rauschende Schweigsamkeit der Toten.
Rings um Benjamin verkümmerten die Wachsenden und wurden nicht reif;
haßten die Gereiften einander; verdorrten die Guten und die Güte;
vertrockneten die Säuglinge; Greise wurden in den Straßen zertreten; Frauen
verkauften ihre kranken Leiber; Bettler protzten mit ihrem Gebrest, Reiche
mit ihren Banknoten; geschminkte Jünglinge verdienten auf der Straße;
Arbeiter schlichen mit krankem Schattenschritt zur Arbeit wie längst
Gestorbene, die den Fluch ihres irdischen Tagewerkes weiterschleppen
müssen; andere betranken sich; heulten wahnsinnigen Jubel in den Straßen,
letzte Jauchzer vor dem Untergang; Diebe legten ihre schleichende
Sorgfalt ab und paradierten mit der Beute; Räuber hatten ihre Winkel
verlassen und verrichteten ihr Werk im Sonnenschein; brach einer nieder auf
hartem Pflaster, raubte ihm der andere den Rock im Weitergehen; Krankheit
wälzte sich durch die Häuser der Armen; über staubige Höfe; lag in den
lichtarmen Stuben; drang durch die Haut; Geld rann durch die Finger der
Satten; ihrer war die Macht; Furcht vor den Hungrigen nährte ihre
Grausamkeit; Fruchtbarkeit ihrer Güter blähte ihren Stolz; sie tranken
Champagner in lichterfüllten Palästen; sie ratterten in Automobilen vom
Geschäft zur Freude, von der Freude zum Geschäft; Fußgänger starben unter
den Rädern; rasende Chauffeure flitzten weiter; die Totengräber streikten; die
Metallarbeiter streikten; vor den Nahrungsmitteln hinter glänzenden
Spiegelscheiben reckten sich ausgedörrte Hälse, flackerten Augen, aus den
Höhlen getretene; kraftlose Fäuste ballten sich in zerrissenen Taschen.
In den Parlamenten redeten oberflächliche Menschen. Minister gaben sich
ihren Beamten preis und waren ihre Gefangene. Staatsanwälte exerzierten in
Sturmtrupps. Richter sprengten Versammlungen. Nationale Wanderredner
hausierten mit tönenden Phrasen. Listige Juden zahlten Geld. Arme Juden
erlitten Prügel. Geistliche predigten Mord. Priester schwangen Knüppel.
Katholiken waren verdächtig. Parteien verloren Anhänger. Fremde Sprachen
waren verhaßt.
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Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92