Page - 59 - in Das Spinnennetz
Image of the Page - 59 -
Text of the Page - 59 -
18
Kapitel
Wie liebte er diese Zeit, Benjamin Lenz, diese Menschen. Wie wuchs er unter
ihnen, gedieh, sammelte Macht, sammelte Geheimnisse, sammelte Geld,
sammelte Freuden, sammelte HaĂ. Sein lauerndes Auge trank das Blut
Europas, sein halbhöriges Ohr den Klang der Waffen, den scharfen Knall der
SchĂŒsse, das Heulen der Gewalt, das letzte Gestöhn der Sterbenden und die
rauschende Schweigsamkeit der Toten.
Rings um Benjamin verkĂŒmmerten die Wachsenden und wurden nicht reif;
haĂten die Gereiften einander; verdorrten die Guten und die GĂŒte;
vertrockneten die SĂ€uglinge; Greise wurden in den StraĂen zertreten; Frauen
verkauften ihre kranken Leiber; Bettler protzten mit ihrem Gebrest, Reiche
mit ihren Banknoten; geschminkte JĂŒnglinge verdienten auf der StraĂe;
Arbeiter schlichen mit krankem Schattenschritt zur Arbeit wie lÀngst
Gestorbene, die den Fluch ihres irdischen Tagewerkes weiterschleppen
mĂŒssen; andere betranken sich; heulten wahnsinnigen Jubel in den StraĂen,
letzte Jauchzer vor dem Untergang; Diebe legten ihre schleichende
Sorgfalt ab und paradierten mit der Beute; RĂ€uber hatten ihre Winkel
verlassen und verrichteten ihr Werk im Sonnenschein; brach einer nieder auf
hartem Pflaster, raubte ihm der andere den Rock im Weitergehen; Krankheit
wĂ€lzte sich durch die HĂ€user der Armen; ĂŒber staubige Höfe; lag in den
lichtarmen Stuben; drang durch die Haut; Geld rann durch die Finger der
Satten; ihrer war die Macht; Furcht vor den Hungrigen nÀhrte ihre
Grausamkeit; Fruchtbarkeit ihrer GĂŒter blĂ€hte ihren Stolz; sie tranken
Champagner in lichterfĂŒllten PalĂ€sten; sie ratterten in Automobilen vom
GeschĂ€ft zur Freude, von der Freude zum GeschĂ€ft; FuĂgĂ€nger starben unter
den RÀdern; rasende Chauffeure flitzten weiter; die TotengrÀber streikten; die
Metallarbeiter streikten; vor den Nahrungsmitteln hinter glÀnzenden
Spiegelscheiben reckten sich ausgedörrte HÀlse, flackerten Augen, aus den
Höhlen getretene; kraftlose FÀuste ballten sich in zerrissenen Taschen.
In den Parlamenten redeten oberflÀchliche Menschen. Minister gaben sich
ihren Beamten preis und waren ihre Gefangene. StaatsanwÀlte exerzierten in
Sturmtrupps. Richter sprengten Versammlungen. Nationale Wanderredner
hausierten mit tönenden Phrasen. Listige Juden zahlten Geld. Arme Juden
erlitten PrĂŒgel. Geistliche predigten Mord. Priester schwangen KnĂŒppel.
Katholiken waren verdÀchtig. Parteien verloren AnhÀnger. Fremde Sprachen
waren verhaĂt.
59
back to the
book Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Title
- Das Spinnennetz
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1923
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 93
- Keywords
- Roman, Geschichte
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92