Seite - 52 - in Das Spinnennetz
Bild der Seite - 52 -
Text der Seite - 52 -
15
Kapitel
Unter den unzuverlässigen und verdächtigen Spitzeln, die Theodor
abgeschafft hatte, befand sich Benjamin Lenz. Er lieferte doppelte Berichte:
an Trebitsch und an Theodor. Von beiden erhielt er Geld. Seine Adresse
kannte Theodor.
Benjamin Lenz, ein Jude aus Lodz, war im Krieg von einer Kundschafter-
und Nachrichtenstelle als Spion verwendet worden. Sein Angesicht verriet
ihn: seine starken Backenknochen warfen Schatten gegen die Augenhöhlen,
der untere Stirnrand mit den Brauen sprang vor, und so lagen die kleinen
schwarzen Augen wie in Talkesseln, ringsum geschützt, und die Richtung der
Blicke war schwer zu erkennen, denn sie kamen aus entfernter Tiefe. Kurz
und breit war das Kinn und die Nase flach. Aber dieser Schädel, der zu einem
gedrungenen Rumpf gepaßt hätte, saß auf dünnem Hals, zwischen
abschüssigen, schlanken Schultern. Benjamin Lenz hatte schmale Knöchel,
dünne Handgelenke, lange, nervöse Finger.
Mit der heimkehrenden Armee war er nach Deutschland gekommen, durch
viele Städte gewandert. Er hatte Empfehlungen von der Armee. Polizisten,
mit Bosheit gegen solche aus dem Osten geladen, zwinkerten mit
verständnisvollem Auge Benjamin zu. Ihre Gunst genoß er und kassierte
unbehelligt im wandernden Panoptikum, drehte den Leierkasten des
Karussells, fälschte Berichte für auswärtige Missionen, stahl in Amtsstuben
Papiere und Stempel, spionierte in Oberschlesien, ließ sich mit
Untersuchungshäftlingen einsperren und horchte sie aus und wartete auf
»seinen Tag«.
Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er haßte Europa, Christentum, Juden,
Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente
den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre
Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. Er haßte
die europäische Dummheit. Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker,
Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er probte
seine Kraft an ihnen. Er verriet die Organisationen an die politischen Gegner;
den französischen Gesandtschaften verriet er Gelogenes, Wahres
durcheinander; er freute sich andem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der
aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte; über das
dumme Erstaunen eingebildeter Diplomaten, kindischer, zahnloser
52
zurück zum
Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92