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Kapitel
Am 20. Oktober, um elf Uhr nachts, wurde Marinelli befreit. Er floh in
bereitgehaltenem Auto nach Berlin, er fuhr nach Potsdam, der Chauffeur hatte
Befehl, ihn zu Theodor Lohse in die Kaserne zu bringen. Theodor erwartete
ihn. Marinelli wurde am Morgen in Uniform gesteckt, er verblieb in der
Kaserne. Am 21. Oktober kam Benjamin Lenz und begrüßte Marinelli: dann
nahm er Theodor mit zum Russen Rastschuk, der ein Bankbeamter war.
Theodor sprach gern mit Rastschuk. Likör tranken sie. Rastschuk war so
groß, so stark, daß er die kleine dunkle Likörstube erfüllte. Er sprach sehr
leise, und man hörte ihn dennoch. Wenn er sein Auge auf den Kellner warf,
kehrte der um, als wäre er gerufen worden. Ganz großartig war Rastschuk.
Benjamin Lenz erzählte ihm von Marinellis Befreiung und Flucht und
Aufenthalt in der Kaserne. Es war Theodor sehr peinlich, und es wurde ihm
heiß, weil Benjamin seine Erzählung immer unterbrach und Theodor zum
Zeugen für die Richtigkeit seiner Worte anrief. »Nicht, Herr Lohse?« fragte
Benjamin, und Theodor schwieg.
Was wußte er überhaupt von Rastschuk? Daß er ein Weißgardist gewesen
und für den Sturz der Bolschewiki arbeitete. So sagte Lenz. So sagte
Rastschuk selbst. Aber Theodor glaubt es nicht. Gleichgültig war alles, zu
spät kamen die Bedenken. Theodor ging mit Benjamin Lenz. Das ist sein
Bundesgenosse.
Benjamin hat einen Plan entworfen. Theodor Lohse erfährt von den
anderen die Vorbereitungen für den 2. November. Dann berichtet er der
Organisation. Aber er stellt Bedingungen: Was erhält Theodor Lohse für
seinen wertvollen Bericht? Er muß nach dem gelungenen 2. November eine
führende, weithin sichtbare Stellung einnehmen. Er ist heute eine Gefahr,
Theodor Lohse. Zwei Wochen trennen ihn vom 2. November.
Um die anderen zutraulich zu machen, liefert er ihnen Geheimbefehle aus.
Es kommen Befehle an Theodor Lohse. Briefe von Münchner Freunden, in
denen gleichgültige Sätze stehen: Alfred holt am Zweiten Paul ab. Aber
dieser Satz bedeutet: Die Berliner Polizei holt die Reichswehr zu Hilfe. Oder:
Unser alter Freund hat sich mit Viktoria verlobt. Und das heißt: Der
Reichswehrminister ist mit den Organisationen einverstanden. Und: Martin
fährt für eine Woche zu den Kindern. Also fuhr Marinelli zum Bismarck-
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Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92