Seite - 36 - in Das Spinnennetz
Bild der Seite - 36 -
Text der Seite - 36 -
9Kapitel
Manchmal kam der Bruder des toten Klitsche. Er diente bei der Reichswehr,
er nahm die strammste Haltung an, wenn er sprach, er sagte in einer Minute
fünfzehnmal Herr Leutnant und besaß dennoch eine unbestimmte
Vertraulichkeit mit allen Dingen dieses Zimmers. Sein Auge grüßte Tapeten,
Decke, Diele wie alte Bekannte. Er war auf diesem Sofa gelegen, auf diesem
Stuhl gesessen, und er sah dem toten Klitsche ähnlich. So ähnlich, daß
Theodor das Angesicht des Toten nicht vergessen konnte und nicht, weshalb
er eigentlich hier saß, arbeitete, arbeitete und wuchs.
Wäre dieser Bruder Klitsches nicht gewesen, Theodor hätte innegehalten –
er wußte es nicht bestimmt, wahrscheinlich hätte er gerastet. Nach einer Pause
sehnte er sich manchmal. Dann aber stieg das Angesicht Klitsches auf und
Günthers, und Theodor arbeitete. Er hat beide getötet, nicht umsonst hat er sie
getötet. Den einen anzuzeigen war seine Pflicht gewesen, den anderen, der
vielleicht schon tot war, ehe er den Schlag erhalten hatte, zu töten, das war
eine Aufgabe, die Früchte tragen sollte.
Aber es kamen Abende, an denen Theodor sich mit der Frage beschäftigen
mußte, ob die Toten endgültig tot seien. Dann ging er in die Kaiser-Wilhelm-
Diele, in die kleine Bar, wo man ihn kannte, guten Tag, Herr Leutnant, sagte
und seinen Besuch schätzte. Ein paar Kameraden seiner Gruppe
umschmeichelten ihn, machten ihm Platz in der Mitte, sahen ihm auf den
Mund und – erkannten sie an den ersten Sätzen, daß es eine lustige
Geschichte würde, dann lachten sie und waren erschüttert von Theodors
Humor. Theodor kannte viele Geschichten, er war Held und Mittelpunkt aller,
er hatte nicht umsonst jahrelang zugehört und gelacht; jetzt wußte er, daß der
Erzählende Mittelpunkt sein mußte. Manchmal auch vergaß er und glaubte,
manches selbst erlebt zu haben. Denn er trank, und auch der Beifall
berauschte ihn, und er saß rittlings auf hohem Barstuhl, und ihm war, als
galoppierte er.
Er hörte das Gelächter der Freunde aus der Ferne, die Musik, die im großen
Saale spielte und unhörbar gewesen war, rückte näher, sie spielte das Lied
vom schwarzbraunen Mädchen, und es war Theodor zum Weinen traurig, und
er wunderte sich nur, daß die Bardame lächelte.
Er trank noch einen Gemischten und sank vom Stuhl und erwachte
morgens.
36
zurück zum
Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92