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Kapitel
Die Nacht verweigerte den Schlaf, und in ihrer rauschenden Stille schwoll
Theodors Furcht vor dem unbekannten, schrecklichen Feind. Befand er sich
jenseits der Grenzen? Lebte er in Theodors Nähe? Lebte er in Theodors Haus
vielleicht, als Portier verkleidet? Hatte der Kellner in der kleinen Konditorei
gegenüber dem Amt nicht das Gesicht des Feindes? Dieses flackernde Haar?
Diese weiße Farbe des Hasses? Den starken, gewichtigen Gang? Die breiten
Schultern?
Lebte jener Mann in der Uniform des staatlichen Chauffeurs, der Theodors
Auto lenkte? Lauerte er nicht hinter jeder Straßenecke, um die Theodor bog?
Hatte er nicht in diesem Hause, unter dieses Bett eine Bombe gelegt?
Theodor machte Licht und ging ein paarmal durchs Zimmer und sah durch
das Fenster die stille Nacht in den Straßen und das zuckende Licht der
Laterne und lauschte auf Schritte, die fern verhallten.
Spät, schon graute der Morgen, überwältigte Theodor schwerer Schlaf.
Neue Hoffnung brachte der Tag, neue Furcht und die grausamen Stunden des
Wartens. Zu Hause konnte Theodor über dieses eine nicht sprechen. Er hätte
erzählen, alles von Anfang erzählen müssen. Von Günther erzählen, von
Klitsche. Es wäre keine Erzählung – eine Beichte; Sturz von der mühsam
erreichten Höhe; Entblößung; Selbstmord.
So blieb nur Benjamin.
Benjamin hörte, tröstete, versprach, erzählte Neuigkeiten, gab Ratschläge,
erfuhr den Inhalt geheimer Konferenzen, erfuhr geheime Pläne der Regierung,
photographierte Akten, verkaufte die Schriftstücke, brachte andere zu
Theodor.
Er hatte viel zu tun.
Es erhoben sich die Arbeiter in den Fabriksvierteln, und die Arbeitslosen
demonstrierten, denn sie erhielten gar nichts mehr. Die lange mühsam
gebändigte Wut der Massen flammte wieder auf. Aus Sachsen zogen
Arbeitslose herbei; sie fuhren nicht mit der Bahn, sie kamen zu Fuß, sie
wanderten auf den breiten Straßen der Länder, sie wanderten durch Schnee
wirbelnden Wind, der den Frühling ankündigte.
Ja, es kam der Frühling. Man fühlte ihn schon auf den Straßen, in der Mitte
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Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92