Seite - 10 - in Das Spinnennetz
Bild der Seite - 10 -
Text der Seite - 10 -
2Kapitel
Manchmal überfiel ihn sein eigener Stolz wie eine fremde Gewalt, und er
fürchtete seine Wünsche, die ihn gefangenhielten. Aber sooft er durch die
Straßen ging, hörte er Millionen fremder Stimmen, flimmerten Millionen
Buntheiten vor seinen Augen, die Schätze der Welt klangen und leuchteten.
Musik wehte aus offenen Fenstern, süßer Duft von schreitenden Frauen, Stolz
und Gewalt von sicheren Männern. Sooft er durch das Brandenburger Tor
ging, träumte er den alten, verlorenen Traum vom siegreichen Einzug auf
schneeweißem Roß, als berittener Hauptmann an der Spitze seiner Kompanie,
von Tausenden Frauen beachtet, vielleicht von manchen geküßt, von Fahnen
umflattert und Jubel umbraust. Diesen Traum hatte er in sich getragen und
liebevoll genährt vom ersten Augenblick seines freiwilligen Eintritts in die
Kaserne, durch die Entbehrungen und Lebensnöte des Krieges. Die
schmerzende Beschimpfung des Wachtmeisters auf der Exerzierwiese hatte
dieser Traum gelindert, den Hunger auf tagelangem Marsch, das brennende
Weh in den Knien, den Arrest in dunkler Zelle, das betäubende, qualvolle
Weiß der verschneiten Wachtpostennacht, den stechenden Frost in den Zehen.
Der Traum drängte zum Ausbruch wie eine Krankheit, die lange unsichtbar
in Gelenken, Nerven, Muskeln lebt und alle Blutgefäße des Körpers erfüllt,
der man nicht entrinnen kann, es sei denn, man entrinne sich selbst. Und
zufolge jener unbekannten Gewalt, welche Theodor schon oft geholfen hatte
und die ihn lehrte, daß der Erfüllung jeder qualvollen Sehnsucht im letzten
Moment eine günstige äußere Bedingung auf halbem Wege entgegenkommt,
ereignete es sich, daß er den Doktor Trebitsch im Hause Efrussis
kennenlernte.
In der ersten Viertelstunde ihrer Bekanntschaft sprach der Doktor Trebitsch
unermüdlich, und sein blonder, langer, in sanften, dunkelnden, an den
Rändern gelichteten Strähnen herabfließender Bart bewegte sich vor den
Augen Theodors in regelmäßigem Auf und Ab und störte die
Aufmerksamkeit des Zuhörers. Leise plätscherten die Worte des
Blondbärtigen,eines und das andere blieb eine Weile in Theodor haften und
verwehte wieder. Noch nie war er einem Vollbart so nahe gewesen. Plötzlich
stöberte ihn der Klang eines Namens aus seiner betäubten Zerstreutheit auf.
Es war der Name des Prinzen Heinrich. Und mit dem Instinkt eines Mannes,
der zufällig einem Prunkstück aus seiner verschütteten Vergangenheit
begegnet und es mit rettend hastiger Gebärde an die Brust reißt, rief Theodor:
10
zurück zum
Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92