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Nachbartisch dreimal hintereinander tanzte, trank sauren Sekt. Das Mädchen
– sie war nicht so eine – verlangte nach einem besseren Hotel, zwei Zimmer
mußte Theodor mieten. Eine Viertelstunde mußte er sie allein lassen, dann
klopfte er an ihre Tür, horchte, klopfte wieder und öffnete. Das Mädchen war
verschwunden.
Er hatte mehr Glück bei jungen Frauen, die, ohne Hut, in den einfachen
Blusen und fadenscheinigen Jäckchen, sich mit einem Kinobesuch begnügten.
Er achtete darauf, daß aus den kleinen Zerstreuungen keine bindende
Freundschaft wurde, er hielt grundsätzlich kein vereinbartes Rendezvous.
Er war mit sich zufrieden und überzeugt, daß Willenskraft und Begabung
ihm diese kurzen Fortschritte in kurzer Zeit ermöglicht hatten.
Er glaubte, die einzige ihm angemessene Beschäftigung gefunden zu
haben. Er wurde stolz auf seine Spionierfähigkeit und nannte sie eine
diplomatische. Sein Interesse für Kriminalistik steigerte sich. Er saß
stundenlang im Kino. Er las Kriminalromane.
Noch lebte das Porträt in ihm, das der Maler Klaften gemalt hatte. Er
versuchte, es Lügen zu strafen. Er wendete Mittel an, um seinen Schnurrbart
buschiger zu machen. Er kleidete sich neu, jetzt trug er einen hellbraunen
Anzug, einen sanft grünlichkarierten und ein kleines, goldenes Hakenkreuz in
einer quergestreiften, seidenen Krawatte.
Er kaufte Waffen aller Art, Jagdmesser und Dolche, einen ledernen
Totschläger, eine Pistole, einen Gummiknüppel. Er ging, wie Detektiv
Klitsche, niemals ohne Revolver, er sah in jedem Passanten einen
kommunistischen Spitzel. Daß er nicht verfolgt wurde, wußte er. Aber er
vergaß es, besonders wenn er ein Kriminaldrama gesehen hatte. Es
schmeichelte ihm, verfolgt zu werden, und also glaubte er daran.
Er, dem jede Stunde schrecklich erschien, nur weil sie neu gewesen war,
der das Kommende gefürchtet, das Bleibende geliebt hatte, er täuschte sich
kühne Unmöglichkeiten vor und erwartete Abenteuer auf jedem Schritt. Er
war gerüstet.
Er wurde ungläubig. Hinter jeder klaren Tatsache sah er Schleier, die
Geheimnis und wahren Sachverhalt bargen. Er las politisch-philosophische
Schriften, die Trebitsch verfaßt hatte. Flugschriften, in denen
Zusammenhänge zwischen Sozialismus, Juden, Franzosen und Russen
aufgedeckt wurden. Diese Lektüren befruchteten Theodors Phantasie. Er
glaubte nicht nur, was er gelesen hatte, er kombinierte aus dem gelesenen
Material neue Tatsachen und entwickelte sie im »Nationalen Beobachter«.
Seitdem er gedruckt wurde, steigerte sich seine Sicherheit, und wenn er die
Feder in die Hand nahm, zweifelte er nicht mehr an der Richtigkeit dessen,
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Das Spinnennetz
- Title
- Das Spinnennetz
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1923
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 93
- Keywords
- Roman, Geschichte
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92