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Oh, wie gern hätte er sich einer anderen Art der Entspannung hingegeben!
Es war schön hinauszufahren, der Sommer lag breit und mächtig über der
Welt, und in den Wäldern war… In den Wäldern gefiel es Theodor nicht, die
Toten lagen in den Wäldern, sie wurden von Würmern gefressen, und grünes
Gras sproßte aus ihrem Gebein.
Einmal kam die Ruhe, spät, auf den Gipfeln erst war sie, weit war der Weg
und Theodor müde.
Aber es trieb ihn zu den Gipfeln, er sah sie nicht, kannte sie nicht, er
konnte sie sich kaum vorstellen. In ihm schrie es: aufwärts, um ihn schrie es:
aufwärts, schon kannte er die Wege, schon war er ein Gruppenführer, schon
lebte er mit Journalisten gut, er kannte den großen Politiker Hilper, er ging
auf die Galerie des Reichstags, er hörte sich selbst schon reden, er sah sich in
diesem Saal, an der Spitze seiner Leute, hörte seinen schrillen Pfiff, er schlug
auf die Abgeordneten, verjagte sie, er schrie: Hoch die Diktatur! Oben, hoch
oben in der Nähe des Diktators, stand Theodor.
Er entsann sich seiner alten Methode: er trat in direkten Verkehr mit Hohen
und Höchsten. Jetzt kannte er sie. Über seinem »Major Seyfarth« stand der
»Marinekapitän Hartmut«. Theodor ersann Pläne; er suchte das Leben, die
Gewohnheiten jüdischer und sozialistischer Männer zu erkunden; manches
erfuhr er, anderes erfand er. Er schrieb im »Nationalen Beobachter« über eine
erfundene Verbindung eines Politikers mit französischen Spionen und schlug
ein Attentat vor. Er war klug und fand Anhaltspunkte für jede Beschuldigung.
Er übertrieb, korrigierte Tatsachen, sein Verdacht ruhte auf irgendeinem
Ereignis. Manchmal erriet er eine geheime Verbindung. Journalisten machten
ihn auf unscheinbare Vorfälle aufmerksam. Er schickte seine Spione aus. Er
wußte, daß jeder dieser Spitzel übertrieb. Er vergrößerte ihre Übertreibungen.
Er arbeitete Pläne zur Befreiung gefangener Organisationsmitglieder aus. Er
sendete die Pläne nach München – an den Kapitän Hartmut. Er verdiente
zumindest Geld. Er verfaßte Rechnungen. Unzufriedene Spitzel begütigte er
durch kameradschaftlichen Händedruck. Es gab Dumme, sie ließen sich alles
gefallen. Sie warteten.
Aber die Stelle S, »Major Seyfarth«, sendete Rügen und Ermahnungen,
bestellte Theodor nach München. Theodor hatte Ausreden. Theodor ging vom
»Major Seyfarth« zum »Kapitän Hartmut«. Er war ein alter Herr, er trug
spärliches Haar über der Glatze, von hinten nach vorn gekämmtes, und er
lauschte mit dankbarer, aber nie gestillter Gier einem Kompliment, einer
Schmeichelei. Theodor erkannte ihn. Manchmal ließ er ein vorsichtiges Urteil
über die Stelle S fallen. Einmal sagte Theodor: Wenn er nicht die Stelle S
hätte, sondern den Kapitän selbst – das wäre anders. Er brauchte einen freien
Geist, er, Theodor Lohse.
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Das Spinnennetz
- Title
- Das Spinnennetz
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1923
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 93
- Keywords
- Roman, Geschichte
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92