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schmolz der Schnee, und an den Rändern bedeckte ihn eine graue Kruste.
Aber die Hungrigen, die Entwichenen, die geflüchteten Häftlinge und die
Arbeiter, die noch vor der Verhaftung die Flucht aus ihrer Heimat ergriffen
hatten und in der großen Stadt unerkannt zu verschwinden hofften, die
Frauen, deren Männer getötet waren, die jüdischen Emigranten aus dem
Osten, die jede Eisenbahn meiden mußten – sie fühlten den Frühling wie ein
dreifaches Weh. Mit dem singenden Frost des Winters hatten sie sich
befreundet, mit dem knisternden Schnee, seinen zärtlichen Flocken, aber den
scharfen Wind, der in sich die kommenden Regen des April trug, der die
Kleider zerbiß und in die Poren der Haut drang, ertrugen sie nicht.
Nieder fielen sie in den Straßen, und das Fieber schüttelte sie, mit
klappernden Kiefern erwarteten sie die letzte Stunde, und dann lagen sie starr
auf den Straßen, und mitleidige Flüchtlinge, die später kamen, begruben die
Leichen in den Feldern, des Nachts, wenn die Bauern es nicht sahen.
Wie ein lächelnder Mörder ging der Frühling durch Deutschland. Wer in
den Baracken nicht starb, den Foltern entging, von den Kugeln der Nationalen
Bürgerliga nicht getroffen wurde und nicht von den Knüppeln des
Hakenkreuzes, wen der Hunger nicht zu Hause traf, wen die Spitzel vergessen
hatten – der starb unterwegs, und die schwarzen großen Rabenschwärme
kreisten über seinem Leichnam.
Krankheiten lagen geborgen in den Kleiderfalten der Wanderer,
Krankheiten hauchte ihr Atem. Der Gendarm, der ihnen unterwegs
entgegentrat, sog die Krankheit ein, die in ihrem Fluch lag, und wenn ihn
nicht die Überzahl ermordete, starb er nach einigen Tagen. Soldaten starben in
den Garnisonen. Patrouillen, die auf die Landstraßen ausgeschickt wurden,
schlichen auf Seitenwegen, um der großen Krankheit nicht zu begegnen, und
entgingen dem Tode nicht.
In den Städten aber sprachen die Bürger von der nationalen Erhebung, hielt
Theodor Vorträge. Jetzt, mehr als je, drohte der innere Feind, und an der
Grenze standen die Nachbarstaaten bereit, ins Land zu marschieren.
Gymnasiasten exerzierten. Richter exerzierten. Priester schwangen Knüppel.
Vor den Altären Gottes, in den großen schönen Kirchen des Landes, predigten
Wanderredner.
Theodor Lohse beschäftigte alle Gymnasiasten, alle Studenten, die
Nationale Bürgerliga. Er sprach am Abend in öffentlichen Versammlungen, er
sprach sich hinauf, schon galt er mehr als der Polizeipräsident, mehr als der
Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, mehr als der Minister.
Er stand auf dem Podium, und der Schall seiner eigenen Stimme hob ihn
empor. Seine Frau saß in der ersten Reihe. Gesichert waren die Eingänge, die
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Das Spinnennetz
- Title
- Das Spinnennetz
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1923
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 93
- Keywords
- Roman, Geschichte
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92