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Das Kind mit dem Spiegel
Hierauf gieng Zarathustra wieder zurĂĽck in das Gebirge und in die Einsamkeit
seiner Höhle und entzog sich den Menschen: wartend gleich einem Säemann,
der seinen Samen ausgeworfen hat. Seine Seele aber wurde voll von
Ungeduld und Begierde nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen
noch Viel zu geben. Diess nämlich ist das Schwerste, aus Liebe die offne
Hand schliessen und als Schenkender die Scham bewahren.
Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre; seine Weisheit aber
wuchs und machte ihm Schmerzen durch ihre FĂĽlle.
Eines Morgens aber wachte er schon vor der Morgenröthe auf, besann sich
lange auf seinem Lager und sprach endlich zu seinem Herzen:
»Was erschrak ich doch so in meinem Traume, dass ich aufwachte? Trat
nicht ein Kind zu mir, das einen Spiegel trug?
»Oh Zarathustra – sprach das Kind zu mir – schaue Dich an im Spiegel!«
Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie ich auf, und mein Herz war
erschĂĽttert: denn nicht mich sahe ich darin, sondern eines Teufels Fratze und
Hohnlachen.
Wahrlich, allzugut verstehe ich des Traumes Zeichen und Mahnung:
meine Lehre ist in Gefahr, Unkraut will Weizen heissen!
Meine Feinde sind mächtig worden und haben meiner Lehre Bildniss
entstellt, also, dass meine Liebsten sich der Gaben schämen müssen, die ich
ihnen gab.
Verloren giengen mir meine Freunde; die Stunde kam mir, meine Verlornen
zu suchen!’ –
Mit diesen Worten sprang Zarathustra auf, aber nicht wie ein Geängstigter,
der nach Luft sucht, sondern eher wie ein Seher und Sänger, welchen der
Geist anfällt. Verwundert sahen sein Adler und seine Schlange auf ihn hin:
denn gleich dem Morgenrothe lag ein kommendes GlĂĽck auf seinem Antlitze.
Was geschah mir doch, meine Thiere? – sagte Zarathustra. Bin ich nicht
verwandelt! Kam mir nicht die Seligkeit wie ein Sturmwind?
»Thöricht ist mein Glück und Thörichtes wird es reden: zu jung noch ist es
– so habt Geduld mit ihm!
Verwundet bin ich von meinem GlĂĽcke: alle Leidenden sollen mir Arzte
sein!
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Also sprach Zarathustra
- Title
- Also sprach Zarathustra
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1885
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 354
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Zarathustras Vorrede 2
- Teil 1 - Die Reden Zarathustras 19
- Von den drei Verwandlungen 20
- Von den LehrstĂĽhlen der Tugend 22
- Von den Hinterweltlern 25
- Von den Verächtern des Leibes 28
- Von den Freuden- und Leidenschaften 30
- Vom bleichen Verbrecher 32
- Vom Lesen und Schreiben 34
- Vom Baum am Berge 36
- Von den Predigern des Todes 39
- Vom Krieg und Kriegsvolke 41
- Vom neuen Götzen 43
- Von den Fliegen des Marktes 46
- Von der Keuschheit 49
- Vom Freunde 51
- Von tausend und Einem Ziele 53
- Von der Nächstenliebe 55
- Vom Wege des Schaffenden 57
- Von alten und jungen Weiblein 60
- Vom Biss der Natter 63
- Von Kind und Ehe 65
- Vom freien Tode 67
- Von der schenkenden Tugend 70
- Teil 2 - Also sprach Zarathustra 75
- Das Kind mit dem Spiegel 77
- Auf den glĂĽckseligen Inseln 80
- Von den Mitleidigen 83
- Von den Priestern 86
- Von den Tugendhaften 89
- Vom Gesindel 92
- Von den Taranteln 95
- Von den berĂĽhmten Weisen 98
- Das Nachtlied 101
- Das Tanzlied 103
- Das Grablied 106
- Von der Selbst-Ueberwindung 109
- Von den Erhabenen 112
- Vom Lande der Bildung 115
- Von der unbefleckten Erkenntniss 118
- Von den Gelehrten 121
- Von den Dichtern 123
- Von grossen Ereignissen 126
- Der Wahrsager 130
- Von der Erlösung 134
- Von der Menschen-Klugheit 139
- Die stillste Stunde 142
- Teil 3 - Also sprach Zarathustra 145
- Der Wanderer 147
- Vom Gesicht und Räthsel 150
- Von der Seligkeit wider Willen 155
- Vor Sonnen-Aufgang 158
- Von der verkleinernden Tugend 161
- Auf dem Oelberge 167
- Vom VorĂĽbergehen 170
- Von den AbtrĂĽnnigen 173
- Die Heimkehr 178
- Von den drei Bösen 182
- Vom Geist der Schwere 187
- Von alten und neuen Tafeln 191
- Der Genesende 222
- Von der groĂźen Sehnsucht 228
- Das andere Tanzlied 231
- Die sieben Siegel 236
- Teil 4 - Also sprach Zarathustra 243
- Das Honig-Opfer 245
- Der Notschrei 248
- Gespräch mit den Königen 251
- Der Blutegel 256
- Der Zauberer 259
- AuĂźer Dienst 267
- Der häßlichste Mensch 271
- Der freiwillige Bettler 276
- Der Schatten 280
- Mittags 283
- Die BegrĂĽĂźung 286
- Das Abendmahl 291
- Vom höheren Menschen 293
- Das Lied der Schwermut 313
- Von der Wissenschaft 319
- Unter Töchtern der Wüste 322
- Die Erweckung 330
- Das Eselsfest 334
- Das trunkne Lied 339
- Das Zeichen 352