Seite - 273 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
Bild der Seite - 273 -
Text der Seite - 273 -
liehen Lebensformen durch die Naturgeschichte hindurch
entfaltet1, hätte sie nicht, wie sie zum Menschen kam, ge-
rufen: „Es ist vollbracht; bis hieher und nicht weiter",
so würde der Mensch nur leben, aber nicht denken, und
es gäbe über ihn und die lebenden Wesen der Erde über-
haupt hinaus noch eine Reihe möglicher Wesen, die so lange
fortginge, bis endlich der Geist das Denken erwachte;
zwischen uns und dem Denken wäre noch eine unüber-
windliche Scheidewand, welche eben die andern lebenden
Wesen auf irgendeiner andern Welt oder Weltteile wären.
Aus völliger Ermüdung gleichsam und Erschöpfung der
Natur, aus einer Sättigung und Überdruß an ihr selbst
kommt das Denken her, gleichwie auch in dem einzelnen
Menschen der Trieb zum Denken mit einem Ekel am sinn-
lichen Leben beginnt; sie hat beschlossen und geendet,
und mit ihrem Tode erhebt sich eine neue Welt, der Geist
über ihr. Wäre nicht auf der Erde alle lebendige Natur
versammelt, so wäre nicht die Natur auf ihr lebenssatt
und lebensmüde geworden, es gäbe also noch anderes
Leben, noch andere lebende Wesen, und dieses andere
Leben, diese andern sinnlichen Wesen wären an der Stelle
unseres Denkens; den Platz sozusagen, den jetzt der Geist
einnimmt, nähmen jene andere[n] lebende[n] Wesen ein,
das Denken fiele außer uns, außer die Erde in ein bis
jetzt noch unbekanntes jenseitiges Land hinein. Diesen Fall
übrigens angenommen, so wäre es durchaus unnötig, ja
nicht einmal möglich, daß jene andere[n] lebende[n] We-
sen einen besondern Weltkörper oder eine eigne Welt einnäh-
men ; denn dadurch, daß der Geist, das Denken äußer uns
hinausfiele, entstünde ja eine Lücke, ein freier Platz
eröffnete sich in uns, und da die Natur bekanntlich einen
horrorem vacui [Scheu vor dem Leeren] hat, so würden
zweifelsohne die andern lebenden Wesen in diesem durch
den Abgang des Denkens entstandnen leeren Räume, gleich-
sam in unsern Poren existieren; unser Kopf, der jetzt das
Organ des Denkens ist, wäre die Welt, in der sie existierten.
Statt daß jene andern lebenden Wesen Weltkörper für sich
bewohnten, so würde dann vielleicht das Denken selbst,
wenigstens höchstwahrscheinlich, jene Welten einnehmen,
1 entfalten A; in H entsprechend korrigiert.
273
Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften