Seite - 549 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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ist ein Rätsel, ein Geheimnis, seine Macht eine unsichtbare,
darum unbekannte. Das Leben der hohen Militärperson ist
seicht, macht aber ein Getöse, einen eclat wie der Rhein-
fall bei Schaffhausen; das Leben des Gelehrten ist ein
stilles Wasser, das aber tief gründet und nur bei seltnen
gewaltigen Erderschütterungen auf eine auch dem Auge
des blinden Haufens bemerkbare Weise seinen Zusammen-
hang mit dem großen Weltmeere beweist.
Die sinnliche Anschauung ist bei der größern Anzahl
der Menschen das einzige Maß ihres Verstandes, die Richt-
schnur ihrer Urteile, der feste Anhaltspunkt bei der Wert-
schätzung der Dinge. Sowie sie auf geistigen Boden kom-
men, geraten sie aufs Glatteis, wo sie Hals und Bein
brechen. Daher halten sie für Ursachen und wirksame
Agentien im Leben1, was doch allein nur eine höchst
untergeordnete Folge ist, hinter welcher man noch eine
ganze2 lange Reihe von Mittelgliedern durchlaufen muß,
bis man erst zu der Ursache kommt, die wegen ihrer
Entlegenheit nur von dem bewaffneten Auge, d. i. dem
denkenden Blicke, wahrgenommen werden kann. Wenn
sie auch sonst oft selbst auf wissenschaftliche Bildung
Anspruch machen, so geht es ihnen doch auf dem Gebiete
der Literatur, w7o sie mit der sinnlichen Anschauung ihre
Gouvernantin und folglich alle Haltung verlieren, ebenso
wie dem gemeinen Manne, wenn er in eine Bildergalerie
kommt. Vor den erhabensten Phantasiestücken und histo-
rischen Gemälden geht er gleichgültig und unberührt
vorüber, aber wenn er ein Fruchtstück mit appetitlichen
Hasen und Rebhühnern oder eine Kuh, die seiner eignen
Stallkuh so ähnlich sieht wie ein Ei dem andern, oder
gar das Porträt von seinem Herrn Vetter erblickt, der
eben Deputierter beim Landtag ist, ja, das ist ein anderer
casus [Fall]; da kann er sich nicht satt daran sehen; da
springt ihm fast das Herz im Leibe vor lauter Freude;
darauf schmeckt ihm sein Essen noch zehnmal so gut;
und wenn er nach Hause zu Weib und Kind kommt, so
kann er nicht aufhören, ihnen von dem großen Einflüsse
zu erzählen, den die schönen Künste auf das Leben haben.
1 Ursachen und . . . im Leben: Ursache C
2 Fehlt in C.
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften