Seite - 553 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
Bild der Seite - 553 -
Text der Seite - 553 -
Und gerade die großen Schriftsteller, denen wir am meisten
Originalität und Selbständigkeit zuschreiben, beweisen
es auf das unverkennbarste, daß sie nur Resultate, not-
wendige Produkte vorangegangener Entwicklungen sind.
Nur über die Leichen ihrer Vorgänger, die mit dem Tode
ihren Sieg erkauften, ziehen sie triumphierend in den
Tempel der Unsterblichkeit ein. Wie die großen Herren
kommen sie erst dann, wenn schon alles zu ihrem Empfang
bereit ist, alle Hindernisse hinweggeräumt, die Straßen
wohlgeebnet und herrlich illuminiert sind, während ihre
armen Vorfahren bei stockfinsterer Nacht die unwegsam-
sten Wildnisse zu passieren hatten und dabei natürlich
oft jammervoll ums Leben kamen. Leider haben aber
die großen Geister meistens ein sehr kurzes Gedächtnis.
Auf dem Gipfel ihres Ruhmes schämen sie sich ihrer
niedrigen Herkunft, vergessen sie, daß sie nur den Unter-
stützungen ihrer armen Eltern und andern1 Verwandten
die Mittel verdanken, durch die sie sich so hoch emporge-
schwungen haben, nur auf ihre Kosten so große Männer
geworden sind. So wollen unsere großen Klassiker nichts
davon wissen, daß Gottsched, Neukirch, Hofmannswaldau
und Konsorten ihre Verwandten waren, daß sie nur durch
ihre Verwendung die lateinische Schule und die Universi-
tät besuchten, daß der Reichtum ihrer Ideen, den sie
sich auf ihre eigne Faust erworben zu haben glauben, nur
von den milden Beiträgen herkommt, die ihre zahlreichen
Verwandten schon vor ihrer Geburt zusammengeschossen
und bei ihrer Taufe als Patengeschenk ihnen eingelegt
haben. Übrigens dürfen wir den großen Herren ob dieser
Vergessenheit nicht böse sein. Die Menschheit hüllt über-
all die ersten Anfänge der Kultur in tiefes Dunkel, stürzt
die Vorarbeiter jeder glänzenden Periode ihres Lebens-
laufes in die Nacht der Vergessenheit, bloß, wie es scheint,
aus Scham, daß sie den Aufwand so vieler Zeit und Kräfte,
so viele Anläufe, Versuche und Vorspiele nötig hat, bis sie
einmal etwas Gescheutes und Vollendetes zustande bringt.
So macht auch die Natur aus der Zeugung ein Geheimnis,
wohl nicht deswegen, weil der Gegenstand für die Er-
forschung des menschlichen Geistes zu tief ist, sondern
1 Eltern . . . andern Fehlt in C
553
Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften