Seite - 560 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
Bild der Seite - 560 -
Text der Seite - 560 -
lauter Gewühl und Getöse Hören und Sehen vergeht. In
diesen Zimmern empfängt er Visiten, befriedigt er seine
natürlichen Bedürfnisse und besorgt die Geschäfte des
Lebens; aber die Studierzimmer seiner Bücher sind im
obersten und letzten Stockwerke und gehen hinten hinaus
in den Garten der Natur. Ach, wie wohl ist es ihm da!
Und wenn ihr ihn kennenlernen, wenn ihr ein Bild von
ihm haben wollt, das der getreue Abdruck seiner Seele
samt allen ihren Affekten und geheimsten Gedanken ist,
so müßt ihr ihn in seinem Studierzimmer belauschen und
in dem Momente abzeichnen, wo er, eben beschäftigt mit
Alchymie, das „Separa terram ab igne, separato subtile
et tenue a grosso et crasso [Trenne die Erde vom Feuer,
dann ist das Feine und Zarte vom Großen und Festen
getrennt]" praktiziert und die derben Stoffe des Lebens
in die subtile Quintessenz seiner Schriften „spiritualisiert,
klassifiziert und essentifiziert".
Die Vernunft ist ein unergründlich tiefes, ist das vor-
trefflichste Wesen von der Welt, ob ihr gleich sie so en
bagatelle behandelt und mit ihr umgeht, als kennet ihr
sie von innen und von außen. Sie ist ein Weib oh, wenn
ich sie nur einigermaßen euch zu schildern imstande wäre!
Sie hat eine Seele, oh, so mild, so weich, so subtil und
ätherisch und doch so allwirkend, so allherrschend wie das
Licht! Sie durchschaut ihren Mann, den Menschen, bis
auf den Grund des Wesens, sie kennt ihn mit allen seinen
Blößen und Schwächen, sie hat ihn vollkommen unter
dem Pantoffel, aber sie ist so zartfühlend und gescheut,
ihn1 ihre Herrschaft durchaus nicht merken zu lassen,
indem sie ihm, ob sie ihn gleich nie aus ihrem Auge ver-
liert, doch immer noch einen hinreichenden Spielraum von
Freiheit, d. h. auf Lateinisch licentia poetica [dichterische
Freiheit], zu allerlei tollen Streichen und Exzessen übrig-
läßt; denn eine andere Bedeutung hat die Freiheit für die
Menschen nicht, daher sie ihnen auch so unendlich teuer,
so heilig ist wie der blaue Montag den Handwerksburschen,
wie den bücher- und lernscheuen Gymnasiasten die freien
Zwischenviertelstunden, in denen sie durch Prügeleien die
1 Im Original A, B und C: ihm
560
Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften