Seite - 563 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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sönlichkeit befreite Wort, die Stimme der Wahrheit und
Gerechtigkeit selber ist, wie die ernste Posaune des Welt-
gerichts die Seele erschüttert. Die Vernunft weiß es ja nur
zu gut, wie die Menschen es anfangen, um sich alle Wahr-
heiten vom Halse zu schaffen, die ihnen nicht anständig
sind und ihnen1 ein gescheuter Mann in Person beibringen
will. Sie brauchen nämlich einen solchen Mann nicht ein-
mal von Gesicht zu kennen, Gott bewahre! Sie brauchen
ihn nur von der Seite einmal ganz zufällig im Vorbeigehen
auf der Gasse im größten Gewühle oder gar nur von hinten
gesehen zu haben, um schon seine charakteristischen Züge
zu kennen, die sie aus allerlei Anekdötchen von seinem
Leben aus dem Munde müßiger Marktschreier und Stadt-
klatscher zusammenstoppeln. Wie in einer wohlgeord-
neten Stadt die Polizei einen Hund verfolgt, der ohne Hals-
band und Nummer durch die Straßen läuft, so setzen sie
einem noch nicht bezeichneten Mann so lange nach, bis sie
ihm das Hundshalsband eines bestimmten Prädikats und
Ehrentitels mit Numero soundsoviel umgeworfen haben.
Solange ein Mensch noch unnumeriert2 unter ihnen herum-
läuft, ist er für sie gewissermaßen ein geheimer Vorwurf;
er macht sie stutzig, bange und unruhig; denn sie wissen
nicht, ob er ihresgleichen ist oder nicht etwas ganz Beson-
deres im Schilde führt, was ihnen irgendwie Nachteil brin-
gen kann. Sobald sie ihn aber unter irgendeiner Nummer
untergebracht haben, so sind sie jetzt auf zeitlebens mit
ihm fertig und im reinen. Sie hängen ihn wie ein außer
Mode gekommenes Kleidungsstück in ihrer Antiquitäten-
sammlung auf, stellen ihn, mit der Zuversicht und Wohl-
behaglichkeit von Rekonvaleszenten, wie ein leeres Arzenei-
glas in einen Winkel hin, wo er sie nimmer inkommodiert.
Wenn daher ein so oder so numerierter Mensch im Namen
der Vernunft seine Mitmenschen belehren will, so kehren
sie ihm auf der Stehe den Rücken, mit dem Ausruf: Was
kann Gutes aus Nazareth kommen? Deswegen, wie ge-
sagt, schriftstellert die Vernunft, schreibt an den Menschen
anonyme Briefe, die ihn so sehr frappieren, weil er nicht
weiß, von wem sie kommen; denn wenngleich die meisten
1 nicht . . . ihnen Fehlt in C.
2 numeriert C
41 Feuerbach 1 503
Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften