Seite - 572 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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wo sie sich in einer solchen gemäßigten Temperatur erhält,
daß sie nur den Appetit und die Verdauungsgeschäfte be-
fördert, oder nicht vielmehr da, wo sie sich bis zur tra-
gischen Glut, bis auf jenen Gipfel des Enthusiasmus em-
porschwingt, wo die auf der platten Ebene unübersteig-
lich erscheinenden Grenzen der höchsten Gegenstände des
Lebens als ein unbemerkbares Nichts von ihr verschwinden?
Ja, bei einiger Energie des Denkens werdet ihr die Be-
hauptung nicht zu kühn finden, daß die Natur so mancher
Sache sich wahrhafter ausspricht und besser, unendlich
besser in solchen Menschen und Handlungen zu erkennen
gibt, die man gewöhnlich verrückte, exzentrische, un-
moralische, ja verbrecherische nennt, weil sie die Sache
mit freier, rücksichtsloser Entschiedenheit aussprechen, als
in solchen Menschen und Handlungen, die wir als ver-
ständige und moralische bezeichnen, weil sie die Sache
mit tausenderlei fremden Rücksichten und Interessen
vermischt und beschränkt ausdrücken. Seid ihr mit mir
darüber einverstanden? Wenn ihr nicht wollt, so müßt
ihr es sein; ich mache kurzen Prozeß; denn wo in aller
Welt wollt ihr noch ein Wesen erkennen, wenn nicht da,
wo es unvermischt, frei von allen fremden Ingredienzen,
darum absolut bestimmt, sich darstellt? Nun frage ich euch:
Was nennt ihr die Seele?, bitte aber dringend, die Antwort
kurz zu machen. „Das bestimmende Prinzip des Lebens,
die Triebfeder aller Tätigkeit, Bewegung und Handlung
in uns." Schön. Wenn nun aber eine exzentrisch Ver-
liebte, wie weiland Hero in der Fabel, beim Anblick des
Leichnams ihres Geliebten sich in die Fluten des Todes
stürzt, was ist die Ursache ihres Todes? Die Liebe, die
den Verlust ihres Gegenstandes nicht überleben kann oder
mag. Und was anders erklärt sie durch diese Handlung,
als daß das Prinzip ihres Lebens nicht eine weiß Gott
was für eine obskure und geheime Seele, sondern eine ganz
bestimmte Seele, die Liebe, war? Denn das, dessen Verlust
unsern Tod zur Folge hat, das ist doch zweifelsohne das
Prinzip, das Zentrum unsers Lebens. Und wenn ein Cato,
vom Schmerz über den Verlust der Freiheit seines Vater-
landes überwältigt, sein Schwert sich in den Leib stößt,
was tut er anders, als daß er feierlich im Angesichte der
Welt die Freiheitsliebe als seine Seele proklamiert und
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften