Seite - 591 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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besonders vorteilhafte Schilderung geben will und diese
mit solchen Zügen beginnt, aus denen wir, wie Cuvier aus
einzelnen Knochen eines Tieres den Totalhabitus und Bau
seines Körpers, von selbst den ganzen Menschen von Kopf
bis zu Fuß konstruieren können, so fahren wir ihm mit
den Worten in die Rede: Seien Sie still, es ist genug,
wir brauchen nichts weiter von ihm zu wissen. So bin ich
überzeugt, daß auch viele meiner sehr verehrten Leser
an den paar charakteristischen Strichen, mit denen ich
eben den Geist an die schwarze Tafel flüchtig hingezeichnet
habe, hinlänglich genug haben werden, um die zur Ver-
vollständigung des Bildes noch fehlenden Stücke selbst
ergänzen zu können. Allein es ist die leider sehr traurige
Pflicht eines Dozenten und Skribenten, sich nach der
Mehrzahl richten zu müssen1, und ich sehe mich daher
nolens volens genötigt, die begonnene Schilderung des
Geistes fortzusetzen und seine noch übrigen empfehlenden
Qualitäten2 zugleich mit den entgegengesetzten Eigen-
schaften der Welt, durch welche sie erst, zufolge dem lo-
gischen Grundsatze: Contraria juxta se posita se magis
elucescunt [miteinander verbunden wird Gegensätzliches
deutlicher], in ihr gehöriges Licht gesetzt werden, nach der
Barometerskala des untrüglichen Einmaleins aufzuzählen.
Der Geist ist also, meine hochzuverehrenden Zuhörer,
nicht nur, wie wir eben gesehen haben — ein warnendes
Exempel! — ein Verschwender sondergleichen, sondern auch
pro quarto [viertens] der in jeder Hinsicht exzessivste,
tollste, enthusiastischste, exzentrischste und genialste Kopf
unter der Sonne; stets in Ekstase, d. h. von Sinnen, wie
Sokrates es nur zu Zeiten war, immer oben 'naus, ohne
Grenzen, Maß und Ziel, eine wahre Quecksilbernatur, sein
ganzes Leben ein ununterbrochner reißender Gedanken-
strom. Das Wasser der Welt dagegen fließt so träge, daß
man nicht weiß, ob es vorwärts oder rückwärts geht, daß
man vor Langeweile sterben müßte, wenn man einzig und
allein an den Anblick dieses Schneckenlaufes gebunden
wäre, daß selbst die gründlicheren Naturforscher darüber
noch nicht ganz im reinen sind, ob es ein stehendes
1 richten . . . müssen: zu richten C
2 empfehlenden Qualitäten: löblichen Eigenschaften CT
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften