Seite - 596 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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nicht an seine eignen Schranken erinnert wird, und eben
diese sind es, die er an seinem Gegensatze, der Genialität
des Geistes, zu seinem größten Leidwesen zu Gesichte be-
kommt.
Ach, wenn der Geist nichts weiter als ein genialer Kopf
wäre, das ginge noch hin. Aber leider ist er auch ein wahrer
Sonderling, voller Eigenheiten und Kapricen. Ich sage
„leider", weil die Welt bei weitem weniger an seinen Geniali-
täten als an seinen Eigenheiten Anstoß nimmt, indem sie
viel greller der Menge in die Augen stechen. Denn in der
Welt will jeder in dem andern nur sich selbst im Spiegel
sehen. Ein Mensch, der nicht so denkt und lebt wie die
andern, ist ihnen so empfindlich wie einem Priscian die
Ohrfeige, die ihm in der Lebhaftigkeit seines Geistes ein
Schulknabe gibt. Wie ein auch durch jahrelange Übung
eingeschossner Kanzelredner in seiner Predigt steckenbleibt,
wenn etwas Außergewöhnliches in der Kirche, etwa eine
auffallende Persönlichkeit, dergleichen er noch nie gesehen,
plötzlich seine Augen frappiert, so werden die Menschen
durch den Anblick eines solchen Nichtkonformisten aus
dem wohl entworfenen Konzept ihres Kopfes gebracht;
sie verlieren gleichsam den sichern Leitfaden ihres Lebens
aus der Hand und ärgern sich daher über ihn, wie die
Schulknaben über die Ausnahmen von der Regel, die ihnen
die Erlernung der Grammatik so sauer machen. In der
Welt richtet darum jeder seine Taschenuhr nach der Stadt-
uhr. Und wenngleich vielleicht sein kleines Taschenühr-
chen richtiger geht und mehr mit dem Laufe der Sonne
übereinstimmt als die große Stadtuhr, es hilft nichts: Wenn
es draußen zwölf Uhr schlägt, so muß es auch auf der
Sackuhr seines Geistes auf die Minute Zwölfe sein, damit
er in demselben Momente, wro die andern Mittag machen,
zugleich auch schon seinen Löffel zwischen den Zähnen
hat, auf daß er ja recht genau den Takt mit den andern
einhält, selbst sein Puls, womöglich, nicht schneller und
langsamer geht als der ihrige. Und wenn auch in der
Stadt, worin er lebt, es mehrere öffentliche Uhren gibt und
diese, was meistens der Fall ist, nicht miteinander über-
einstimmen, so daß man nicht weiß, nach welcher man
seine Taschenuhr stellen soll, eher als er es sich selbst
recht macht und Gefahr läuft, für eine Ausnahme von der
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften