Seite - 598 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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fülle, oh, welche wundervolle[n] Aussichten eröffnen sich
hier seinen wonnetrunknen Blicken! Jede neue Windung
des Stromes bringt ihm eine neue in sich vollendete Welt
zur Anschauung, von der er sich nicht losreißen kann.
Er möchte eine Ewigkeit hier weilen; er glaubt, hier
auf dem höchsten Gipfel zu sein, wo er das Schönste und
Herrlichste, das es nur immer geben kann, bereits genossen
hat, den Becher der Unendlichkeit bis auf den letzten
Tropfen ausgeleert zu haben, ein Glaube, in dem er sich
auch wohl schwerlich, wenigstens in bezug auf sich selbst,
getäuscht hat. Während er daher noch draußen im Genüsse
der herrlichen Natur, die ihn1 alles vergessen läßt, ohne
Dach und Fach herumschweift, sitzen seine Kameraden
schon längst geborgen im Quartier und beleben ihre lang-
weiligen Gespräche einzig durch die boshaften Glossen,
die sie über sein langes Ausbleiben machen. Wenn dann
einige, die, ob sie es gleich mit der Masse halten, doch
noch ein besonderes Interesse an dem Schicksal des Geistes
nehmen, ihre Unruhe über seine lange Abwesenheit laut
werden lassen, so erheben sich sogleich andere sie über-
bietende Stimmen aus der Mitte des Volkes heraus, die
sie mit den Worten zurechtweisen: „Er ist selbst schuld
daran, wenn ihn die Wölfe und Bären unterwegs zerreißen.
Warum hält er sich nicht mit uns? Laßt ihn in Gottes
Namen laufen. An ihm ist Hopfen und Malz verloren."
Er war von jeher ein ganz verrückter Kerl. Und wenn ihr's
noch nicht glauben wollt, so habt ihr die schlagendsten
Beweise von seiner Verrücktheit. Er hat nie mit uns zur
rechten Zeit gegessen, sondern, ohne sich an eine bestimmte
Stunde zu binden, wenn's ihm eben gerade genehm war,
wie jener Leipziger Magister namens Leibniz, von dem ihr
vielleicht schon gehört haben werdet; oft ist er gar nicht
einmal wie ein andrer ordentlicher Mensch ins Bett ge-
kommen, sondern geradezu auf seinem2 Arbeitssessel mit
der Feder in der Hand eingeschlafen, um soviel als möglich
ohne Absatz seinen Grillen Audienz geben zu können,
wie ebendieser Magister, der — um euch gleich diesen
Umstand zu erzählen, damit ihr daraus um so besser
1 Im Original A/B:. ihm Hier berichtigt nach C.
2 Im Original A/B: seinen Hier berichtigt nach C.
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften