Seite - 609 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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noch alles vom Geiste auszustehen! Wie ein Liebhaber, der
seiner Eroberung noch nicht ganz versichert ist, peinigt
er euch mit seiner Eifersucht. Jede Äußerung auch der
unschuldigsten Freude kränkt ihn schon aufs tiefste, wenn
er sich nicht als ihre Ursache weiß. Jeder Blick, den ihr
nur woandershin selbst mit notgedrungner Freundlichkeit
werft, ist schon hinreichend, ihn außer Fassung zu bringen.
Er will, daß ihr ganz in ihm euch verliert, daß ihr eure
fünf Sinne, eure Phantasie, euren Verstand, euer Herz,
kurz, all euer Seelenvermögen ihm übergebt, ohne auch
nur einen roten Heller zu euerm Privatgebrauch als Ta-
schengeld in einer besondern Sparbüchse1 zurückzulegen.
Ihr lebt in beständiger Unruhe und Angst, seine Gunst
und Liebe zu verlieren. Ihr müßt alles aufbieten, um ihn
guten Muts zu erhalten. Wie die Kindbetterinnen müßt
ihr euch halten, die strengste Diät beobachten. Sagt nicht
selbst Goethe, einer von den größten Meistern eurer Zunft,
von sich: „Ich habe die Erfahrung wieder erneuert, daß
ich nur in einer absoluten Einsamkeit arbeiten kann und
daß nicht etwa nur das Gespräch, sondern sogar schon
häusliche Gegenwart geliebter und geschätzter Personen
meine poetischen Quellen gänzlich ableitet" [?]2 Und wenn
ihr nun endlich fertig seid, was habt ihr vom Geiste zum
Lohne für eure Opfer, eure Mühen, Sorgen und Qualen?
Meistens nichts als das widerliche Gefühl der Scham und
des Ekels an euch selbst. Eure Bücher scheinen euch nichts
anders zu sein als Blößen, die ihr euch in den Augen der
Welt gegeben habt, als öffentlich ausgestellte testimonia
paupertatis [Armutszeugnisse], als frei- und reumütige
Selbstbekenntnisse ä la Rousseau und Augustin, als In-
ventarien von eurem geistigen Naturnachlasse, als Sünden-
register und Druckfehlerverzeichnisse von dem Text eures
Lebenslaufes, wegen welcher ihr den geneigten Leser jedes-
mal demütigst uni Verzeihung bitten solltet, als Repertorien
eurer Muttermale und sonstigen besondern Kennzeichen,
durch die ihr euch, eben nicht gerade zu euerm Vorteil,
von andern Menschen unterscheidet. Solange eure Arbeit
noch im Flusse des Werdens begriffen ist, so gefällt sie euch
1 So ergänzt auch C.
2 als ;. . Sparbüchse Fehlt in C.
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften