Seite - 615 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
Bild der Seite - 615 -
Text der Seite - 615 -
nieren sprechen ihn nicht an; er geht bei euch nicht aus
sich heraus; er ist bei euch nicht zu Hause, nicht er selbst.
Versetzt ihn nur in Kreise, die ihm zusagen, und ihr werdet
eben diesen unbedeutenden C. zu eurer größten Beschä-
mung und Verwunderung mit allen Herrlichkeiten des
Geistes und der Kraft als einen Stern erster Größe funkeln
sehen. Wendet dieses triviale Beispiel aus einer andern
Sphäre auch auf eure leichtfertigen Urteile über den Wert
so manches Schriftstellers als Mensch[en]1 an. Sucht sein
wahres Weesen und seinen wahren Charakter und sein
wahres Leben nicht am unrechten Orte, sucht bei ihm den
Menschen auch in seinen Schriften; in ihnen allein ist er
selbst. So mancher Schriftsteller gleicht dem Auswanderer
nach Amerika. Aus der drückenden Not des gemeinen
Lebens zieht er hin mit Sack und Pack in die herrliche,
ergiebige W7elt des Geistes; die liegenden, unbeweglichen
Güter des Lebens setzt er in die überallhin kursierenden
Münzen des Gedankens um; das Beste, was er hat, nimmt
er in die Reisebündel seiner Schriften zusammen; er läßt
nichts im Leben zurück als elendes Geräte und abgenutzte
Lumpen. Und die gemeinen Biographen und Urteiler, die
aus Anekdötchen, aus dem äußerlichen Leben den wahren
Charakter solcher Schriftsteller beurteilen wollen, kom-
men mir vor wie Leute, die aus den zurückgelassnen Lum-
pen eines Auswanderers nach Amerika seinen Vermögens-
zustand beurteilen und daran sein Elend uns darstellen
wollten.
„Du willst also aus dem Schriftsteller auch den Menschen
erkennen und beurteilen?" Ja, und von dieser Behauptung
bringen mich weder solche, übrigens nur scheinbare, Wider-
sprüche ab, daß dieser in seinen Schriften der gallenbitter-
ste und schamloseste Satiriker, aber im Leben keusch wie
ein Mädchen und von dem sanftmütigsten Charakter sein
kann, wie es Persius war, jener als Schriftsteller der seelen-
frohste, selbst schrankenloseste, ausgelassenste Komiker,
ja in vielen seiner Lustspiele ein wahrer Trunkenbold, ein
Schlemmer in dem geistigen Genüsse seiner unerschöpf-
lichen Witzfülle und doch zugleich als Mensch der pein-
1 So ergänzt auch C.
615
Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften