Seite - 623 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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Die Autoren sind Väter, die Bücher ihre Kinder. Richtig;
aber wie zwischen den leiblichen Vätern ist auch zwischen
diesen geistigen Vätern ein gewaltiger Unterschied. Der
schlechte Schriftsteller verwendet nichts auf die Erziehung
seiner geistigen Kinder; er setzt sie nackt, unerzogen,
hilflos aus, ohne ihnen etwas von sich mitzuteilen, von
seinen Kräften und seinem Vermögen zu opfern, gibt ihre
Existenz dem Zufalle preis. Aber der echte, der in der
geistigen Tätigkeit lebende Autor, der die Achtung für
sich selbst auch auf seine Schriften ausdehnt, der in ihnen
die Fortdauer und Fortsetzung seiner selbst anerkennt1,
entläßt diese seine geistigen Kinder nur erst dann aus seinem
Hause, wenn sie groß und wohlerzogen sind und jetzt selbst
in der Welt sich ihre Existenz verschaffen können, und
setzt sie nach seinem Tode zu seinen rechtmäßigen Erben
ein. Der schlechte Vater sorgt für sich selbst, er ist ent-
weder zu leichtsinnig und egoistisch, um seinen Kindern
etwas von sich geben zu wollen, oder zu arm, um ihnen
etwas geben zu2 können; kein inneres Band verbindet sie
daher auch miteinander. Aber der gute Vater sorgt nur
für sich selbst, um für seine Kinder sorgen zu können, ja,
er vernachlässigt sogar sich selbst oft zu ihrem Besten.
Ein wesentliches Band existiert daher zwischen ihm und
ihnen; denn seine Tugenden, seine Ansichten, Erfahrungen
und Maximen, die Früchte seines Lebens, seine ganze
Empfindungs-, Denk- und Gesinnungsweise, hiemit sich
selbst prägt er ihnen ein; er wird daher auch wahrhaft
in und aus seinen Kindern erkannt; sie sind seine getreuen
Ebenbildnisse, die Siegelbewahrer und Schatzkämmerer
seines Wesens und seiner heiligsten Interessen, seine Re-
präsentanten und Sachwalter vor dem Forum der WTelt.
Ist der Schriftsteller nur so eine Eigenschaft, ein Akzi-
dens, eine oberflächliche Modifikation des Menschenwesens
oder Substanz? Ist er nur eine untergeordnete Kreatur
des Menschen oder gleich wesentlich mit ihm? Die mystische
Einheit, die unio essentialis, ist hier die Wahrheit. Der
Schriftsteller ist der eingeborne Sohn des Menschen, eines
und desselben Wesens mit ihm. Als Mensch ist der Schrift-
1 erkennt C
2 wollen . . . geben zu Fehlt in C.
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften