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Jeder ehrliche Tittenschilderer, dem es in allen Dinge» um die Wahrheit und
unter allen Uniständen nur um die ungeschminkte Wahrheit zu thun ist, nmß nnd wird
deßhalb gestehen, daß das leidige Wirthshaus (und was d'rum und d'ran) im Leben des
Wieners ein mächtiger Factor und nicht etwa durch abnorme Geschehnisse geworden,
vielmehr von jeher gewesen ist. Das halbdunkle, rauchgeschwärzte, selten gescheuerte „Gast-
zimmer" seiner nachbarlichen Stamm- und Lieblingskueipe ist der Fleck, wo sich der echte
Wiener am heimischsten fühlt, wo er am häufigsten und ain sichersten zu finden ist und
wohin es ihn unter allen, auch den seltsamsten Anlässen mit magischer Gewalt zieht.
Zuerst will es schon die süße (ererbte) Gewohnheit, den „Frühpfiff" oder das „Stehfeitel"
an der Quelle, das heißt an der „Schenke" und angesichts des Spundloches und der Pipe,
sich zu gönnen. Die Geschichte wird rasch abgemacht und erfordert höchstens fünf Minuten
Aufenthalt. Aber der Kundige lächelt zu solch gleisnerisch-bescheidenem Vorhaben, das
vermeintlich „unschuldige" und zu rechtfertigende Gelüste wiederholt sich in kurzen
Zwischenräumen, und erreichen diese (stets eiligen) Visiten bei ausgepichteren Naturen
tagsüber eine oft stattliche Zahl, Dennoch eröffnet er erst Abends hier seine regelrechte
Ansiedlung und Hauptniederlassung, wo dann die Wirihsstube mit ihren intimen Vor-
gängen zu jener socialen Bedeutung gelangt, die sie im Culturleben des Wiener Volkes
seit undenklichen Zeiten eingenommen hat.
Man könnte Bände voll schreiben, wollte man weiter nichts als das „Wiener
Wirthshausleben" in seinen bunten Einzelnheiten, seinen sittlichen Vorzügen und Nach-
theilen, in seinen unausweichlichen Conseanmzen und vorzugsweise m seinen gesellschaft-
lichen Beziehungen und Wechselwirkungen genauer schildern. Das Wiener Wirthshaus!
Nirgends werden jene Allianzen gegründet, die nicht allein zum „Gevatterbirten"
ermuthigen, sondern auch bis zur Verschwiegerung und Verschwägerung gedeihen;
nirgends jene Freundschaften und „Bruderschaften" geschlossen, die bis ans Lebensende
reichen; nirgends aber auch jene „tödtlichen" Feindschaften angebahnt nnd besiegelt, die
bis in den Gerichtssaal führen, als — im Gasthause, sei es am Stammtische des „Extra-
zimmers" unter behäbigen Honoratioren, sei es in der Atmosphäre der „Schwemme", wo
der „kleine Mann" mit der Pudrlhanbe oder in Hemdärmeln und mit dem Schurzfell
angethan sein frugales Abendbrod verzehrt. Denn das Wirthshaus ist diefen allen vielleicht
ihr Alles, was ihr einförmig Dasein an Lust und Reiz und Vergnügungen ihnen zn bieten
vermag; es ist Manchem beinahe sein Domicil, das er nur selten und nur sprungweise
verläßt; jedenfalls ist es aber den Meisten die einzige Zufluchtsstätte, wohin es sie drängt,
wenu sie ihrem von Kummer gepreßten oder von Freude erregten Herzen Luft machen
wollen. Das Ventil heißt: rasche Mittheilung, und wo fände Jeder für jegliche Stimmung
die richtigste Theilnahme wenn nicht hier, in dem patentirten Kreise von «»geheuchelter
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277