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Wien wurde einst die „Theaterstadt" genannt. Nicht der Zahl der Museutempcl,
die gegen anderwärts immer bescheiden blieb, sondern des lebhaften Interesses, des zwar
schonen, aber oft übertriebenen Feuereifers wegen, womit der eingeborene „hausgesessene"
Wiener für sein jeweiliges Leib- und Licblingsthcater eintrat und für feine erkorenen
Günstlinge in ungeheucheltem Enthusiasmus nnd in hingehendster Weise ins Zeug ging.
Hierbei muß jedoch angeführt werden, daß von den bestandenen und noch bestehenden füuf
stabilen Theatern ein jedes der Reihe nach im Allgemeinen und ans speciellen Ursachen
für ganze Zeitabschnitte in der Mode war. Anderseits ist es wieder eine locale Eigen-
thümlichkeit, daß einzelne Volksschichten meist immer einem und demfelben Theater, nnd
zwar trotz dessen bedenklichster Wandlungen, von Generation auf Generation treu bleiben
und daß der Enkel auch heute noch jenes Theater bevorzugt, das fein Großvater einst
fatiorisirte und wo er selbst noch als täppischer Junge freudigst aufgejauchzt oder bitterlich
geweint hat.
In den Kreisen des Mittelstandes schwärinte man allzeit an, meisten und heftigsten
sür die beiden Hoftheatcr, eine Sympathie, die sich wohl noch bis hente erhielt, wenn auch
nach dem Ausfpruche hochbetagter und glaubwürdiger Zeugen verflossener Glanzepochen
der Kunst fo manche jener unvergeßlichen Leistungen von den Epigonen nicht mehr voll-
kommen erreicht wurde. Aber wie es einst Festtage iu einer soliden bürgerlichen Familie
waren, wenn das Oberhaupt derselben seinem Nachwuchs gestattete, einer der damals gang
und gäben Mustcrvorstelluugen, um die uns ja alle Welt beneidete, beizuwohnen, und die
Töchter im Zweiten Parterre oder auf der vierten Galeric des Vurgtheaters, uud die Söhue
im fünften Stucke des alten Kärntnerihorthcaters, von gleich heißblütigen Kunstfreunden
eingezwängt, faßen, mit Auge und Ohr verschlangen, was da unten auf dcr Bühne geradezu
Wunderbares vorging, Jedes auf dem Heimweg in Anpreisung dcr Vorzüge seines Idols
sich heiser redete uud uoch wochenlang nnr uon demfelbeu Thema sprach — so ist's in
dieser Richtung bei einer bestimmten empfindeudeu Menfchenclasse dermalen wohl anch
nicht anders. Schwnren die Väter und Mütter zu den Göttern ihrer Zeit und fanden nicht
der Worte genng, wenn sie von „ihrer" Schröder, Müller, Neumann, Peche, Rettich,
uon Fritz Deminer, Heurteur, Aufchütz, Koru, Löwe, Laroche, Fichtuer, Wilhelmi :c. oder
von den Gesangscelebritäten ^ wir nennen nur die deutschen — von einer Sontag, Ungher,
Ernst, Schrödcr-Devrient, Luhcr, Hassclt; von Wild, Staudigl, Forti, Binder ie. zu erzählen
begannen, so sind die Nachkommen jener treuen Enthusiasteu für die edleren Theatergenüsse
ihrer Pcriodc nicht minder dankbar und blicken mit gleicher Verehrung zu den Sternen,
die jetzt am Kunsthimmel glänzen und leuchten.
Denn es gibt — dem Himmel sei Dank! — wenn auch schon die Ära der verzückten
Exaltados und effectiuen „Theaternarren", wo die Lind-Glsler-Taglioni-Pischet-Pöcth-
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277