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Bunterlei des Gebotenen zu — betäuben und ihni zugleich auch als Surrogat für Theater
und Volkssänger zu dieuen. In dem „Tingel-Tangel" findet der Mensch Alles, was
Hörens-, sehens- und staunenswerth ist und worüber er dennoch nicht viel oder eigentlich
gar nicht zu denken braucht, — bekanntlich für Viele das Angenehmste. Das Programm
eines solchen Etablissements ist demnach wie die Speisekarte einer modernen Abfütternngs-
Unternehmnng, vul^o „Restauration", deren mannigfaltige und vielzellige Numenclatur
von Gerichten und Delikatessen aller Art allein schon den Leser verblicht. Und „verblüffen"
ist anch die Missiou des „Tingel-Tangel", in dessen grcll ausgestatteten Räumen dem
p. t. Besucher um ein Billiges alle jene Merkwürdigkeiten und „Kunstkräfte ersten Ranges"
vorgeführt werden, über welche die gesummte Welt momentan verfügt.
So erhält denn der sensationslüsterne Gast zu seinem Kalbsbraten und seinem
Krügel zweifelhaften Lager, wenn schon nicht einen gelb- oder braun- oder schwarzhäutigen,
wie Kautschuk geschmeidigen, knochenlosen Tausendsassa, so doch gewiß einen Violinspieler,
der ohne Arme geboren, einen einbeinigen Täuzer, eiueu Feuerfresser, einen Schwcrter-
schlucker, einen Messenverfer, eine Seiltänzerin, einen Ionglenr, einen Athleten, einen
Kunstschützen, eine Akrobatenfamilie !>.-., außerdem als „Ruhepunkte" und Füllsel einen
Thierstimmen-Imitator, einen Schnellzeichner, einen Wiener VolkssÜnger, französische oder
englische oder spanische Chansonetten-Sängerinnen und zum Schlüsse: dressirte Ochsen.
tanzende und musicirendc Elephanten, gelehrte Hunde u. f, w. zur geneigte» Bewunderung
und zum möglichsten Staunen vorgeführt nud durch findigste Reclamcn anempfohlen. Und
„Morgen wieder Nenes!" „Das Repertoire täglich gewechselt!" heißt es in den Affichen.
Was Wunder, daß man morgen wieder kommt, um von anderen elhnographischeu oder
künstlerischen Merkwürdigkeiten und Ungeheuerlichkeiten überrascht zu werden. Und so fort.
Die „Tingel-Tangel" wuchsen in Wien, gleich anderem Untraut, förmlich aus der
Erde. In allen vierunddreißig Vorstädten — nm die ehemalige, hier bezeichnendere Titulatur
zn gebrauchen — gab es urplötzlich „Tingcl-Tangel". Was manche dem Publimm
boten, läßt sich ahnen, aber die große, nie sonderlich denkende nnd grübelnde Masse wurde
durch die bombastischen fignralischen Annoncen doch harauguirt und drängte sich iu die
mesqninstcn Spelunken, nm für ihr schwer verdientes Legegeld etwas „ordentlich
Haarsträubendes" und „Nochnicdagewefenes" zu sehen und nebenbei an dem echt gassen-
hauerischen Couplet eines ausrangirten GesangskomikerZ oder einer exmittirten Soubrette
sich pflichtschuldig zu ergötzeu und gehörig auszujubeln. Das geschah denn auch uud zwar
wieder bis zum eigenen Überdruß.
Da es nämlich den (meist nur provisorischen uud Interims-) Besitzern, Pächtern
und Leitern dieser „internationalen Kuustetablissements" ^ mitunter sehr dunklen Ehren-
männern — auf die Länge schwierig wurde, stets nur hervorragende „Artisten" und
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277