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sie betrachten an den Eingangsthürcn der Theater uud Ballfäle die herrlichen Toiletten
der Gäste und erfreuen sich thatsächlich an den Freuden der übrigen Menschheit. Die Bibel
könnte es nicht edelsiuniger verlangen. Haben sie sonst noch Zeit nnd Muße und wollen sie
sich einen apart vergnügten Tag verschaffen, so wandern sie nach der Schmelz und wohnen
einer Feldübung oder einem Manöver oder einer großen Parade bei, wie sie ja auch —
zumeist sind es ohnehin Pensionisten und ausgediente Soldaten — der Abrichtung der
Rekruten, einer Wache-Ablösuug, einem Vcteranenansmarsch oder auch den Kinderspiel-
Plätzen gerne ihre betrachtende Theilnahme schenken.
Welch ein großer Abstand zwischen diesen Taubennatnren nud jenen turbulenten
Charakteren, die als enragirte, notorische „Heurigengeher" eine eigene Sippe und Species
formiren und zn allen Zeiten ewig uur dort mit voller Sicherheit zu treffen sind, wo
„Gott Vater deu Arm herausstrcckt" — nämlich in den vorortlichen Weinschänken. Damit
ist denn anch die unliebsame, aber unausweichliche Denunciation angebracht, daß die
„Heurigen-Cultusgemeinde" Wiens eine vielverbreitete ist, daß Alt nnd Jung und — was
das Bedauerliche — beiderlei Geschlechter zu ihren Anhängern gehören und daß bei der
überwiegenden Mehrzahl der Besucher dieser Tavernen nnd fliegenden Buschschäuten die
Stillung des Durstes durch jnugen Rebensaft nicht als die Hauptsache nnd eigentliche
Tendenz angenommen werden kann, dagegen die an diesen Orten besonders eingebürgerte
„Hetze", die „Graud-Rcinasuri", die daselbst immer zu finden, der massive „Urulk", der
„laute Ton" uud der übrige spectakelhafteste „Jux" die Magnete sind, welche das zur
Lustigkeit stets aufgelegte Völkchen in die bekannten Reviere des „Gerebelten" nnd
„Schmecketen" locken.
Nuu soll nicht geleugnet werde», daß in derlei Räumen, wo Reinlichkeit und Sauber-
keit nicht als Grundregel gelten, vielmehr sowohl auf als unter den Tischen ein chaotisches
Durcheinander von Eier-, Nuß- und Kastanienschalen, Wursthäuten, Zwetschtenkernen,
Käserinden, abgenagten Schinkenbeinen, Fleischknochen und fettgetränkten Emballage-
pavieren seineu beständigen Lagerplatz hat, daß, sagen wir, auch iumitteu der lärmenden,
johlenden, kreischenden, singenden, schreienden, tobenden und lachenden Menge von stark
„angeheiterten" übermüthigen uud häufig raudalircnden Brauseköpfen nicht etwa einzelne
ruhige, friedfertige uud harmlose Gestalten zn entdecken wären, welche wortlos vor ihrem
Glase kauern und das grünliche Naß schier ehrfürchtig an ihre Lippen führeu. Aber diese
„Trinker von Sti l" , die sich Hieher verirrt/ diese Trinker des Trinkens wegen, diese
musterhaft „stillen Zecher" sind an solchen rnmoruollen Orten natnr- und sachgemäß doch
nur stets in der beäugstigendsten Minorität und wie sporadisch eingestreute Rosinen in
einem Monstre-Gugelhupf nur schwer zu finden. Die Mehrheit ist für den ungemesseusten
Trubel, und der ist beim „Heurigen" nach uralter Überlieferung in Permanenz.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277