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Johannes gescholten, riecht sich in Selbstanklageu; er wolle sich nicht lang bedenken,
„sondern will mich allsobald selbsteu henken." Wiederum Klagen und Trustreden, Der
Schuhengel erscheint und verkündet dein büßenden Sünder die Vergebung seiner Sünden.
Kein Sünder auf Erden sei so groß, daß ihm, wenn er sich zu Jesus kehrt, nicht verziehen
werde. Der Prolog ruft die Fürbitte der Mutter Gottes an, sämmtliche Personen gehen
dreimal stillschweigend um das Grab, und der Prolog spricht kniend ein Schlußgebct.
Der dramatische Zug dieses Passiousspiels ist nicht sehr stark. Jede Person spricht
sich in der breitesten Weise aus, jede muß warten, bis die andere fertig ist; nur in dem
Gespräch zwischen Josef und Pilatus lüftet und lichtet sich der Dialog in etwas, trifft
Wort und Antwort näher aufeinander. Der poetische Charakter der Dichtung ist von
der Art, daß man wohl merkt, es habe sich hier ein edlerer Geist nach und nach zurück-
gezogen. Der Vers ist zerrüttet, die Sprache hat sich vergröbert, der kräftige und finnige
Ausdruck des Gedankens uud der Empfindung ist zu Formeln ausgehöhlt. Wenn sonst
die altdeutsche Dichtung für die Maricuklage die zartesten uud ergreifendsten Worte
findet, so briugt es die Maria des Pasfionsspicls von St, Stefan im besten Falle zu der
nicht unschönen Klage: „O wehe, daß ich erlebt den Tag. darau mein Kind gestorben ist",
oder zu den ebenso mütterlichen als antidogmatischen Worten: „Ach, ich wollt', ich wäre an
feiner Statt." Die schönste Äußerung von allen ist der Maria Magdalena iu den Mnnd
gelegt, da sie am Grabe steht und ihr die Zähren „uon den Augen springen", Tie klagt:
«ein Lüftchen von Humor rührt sich in diesem Passionsspiele. Die geistliche Dichtung der
Deutschen kommt oft von selbst auf den Humor, indem sie den Ernst überspannt: hier
aber ist nur ein trauriger Ernst, der sich nicht über fich selbst hinauftreiben läßt. Dieses
Passionsfpiel hat sogar ciue polemische Spitze, die sich gegen die heitere Behandlung der
Welt wendet, indem der Prolog, die Anwesenden zu strenger Aufmerksamkeit ermahnend,
äußert:
Wie die Welt jehundei hören will.
Das ist nicht mehr der unbefangene Katholicismus, da ist ein fremder Tropfen in das
Wiener Blnt gefloffen: man glaubt schou den Drnck der Gegenreformation zn verspüren.
Das Drama ist in der Kirche entstanden, es ist hervorgegangen ans dem religiös'
künstlerischen Bedürfniß der Gläubigen, die Thatsachen des Heils leibhaftig mit Augen zn
sehen, die Gestalten, an welche die Heilsthatsachen sich knüpfen, wie in der Gegenwart
fprechen zu hören. Es schließt sich an den Ritus der Kirche an und oft genug mit ihm
zusammen. So ist es ein Spiel, dem der Ernst zu Grunde liegt, also ein Kunstwerk im
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Band 1
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Band
- 1
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1886
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.13 x 22.72 cm
- Seiten
- 348
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277