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Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten …
Die Konvoi-Theorie geht wie die SST davon aus, dass Menschen nicht allein
durch das Leben gehen, sondern sich fortwährend in einem relevanten Umfeld
sozialer Beziehungen bewegen (engl. convoy = Geleitzug). Dieser Convoy of Life
gliedert sich der Theorie zufolge in proximale, eher stabile sowie distale, weni-
ger stabile Beziehungen. Dabei konzipieren Antonucci et al. (2011) weniger
die Veränderung der subjektiven Gewichtung beider Beziehungsarten über die
Lebensspanne, sondern vielmehr eine fortwährende Relevanz beider. Der Unter-
schied besteht laut dieser Theorie vor allem darin, dass die distalen Beziehungen
eher den Lebensumständen nach einem Übergang entsprechend umgebaut und
angepasst werden müssen (z. B. indem nach einer Trennung oder einem Umzug
neue Freundschaften eingegangen und alte de-intensiviert oder aufgegeben wer-
den), während die proximalen (Kern-)Beziehungen des Netzwerks einen von
diversen Transitionen relativ unabhängigen Bestand haben sollten.
Beide Theorien postulieren somit, dass proximale Beziehungen zu Familien-
mitgliedern und Freunden eher konstant über die Lebensspanne bleiben, während
distale Beziehungen mit zunehmendem Alter aus intra-psychischen Gründen
abnehmen (SST) bzw. von Lebensereignissen beeinflusst werden (KT). In einer
Meta-Analyse zu beiden Ansätzen und der Veränderung der Netzwerkgröße über
die Lebensspanne schließen Wrzus et al. (2013), dass sich empirisch Belege für
beide Theorien finden lassen, sodass sich die Theorien eher in den zugrunde lie-
genden Mechanismen als in den Voraussagen zur Größe und Art der Netzwerke
unterscheiden. Gleichwohl bleiben beide Netzwerktheorien bezüglich der Ent-
wicklung von gesundheitlicher oder sozialer Ungleichheit defizitär, d. h. sie tref-
fen keine unmittelbaren Vorhersagen hierzu.
Weitere Theorien der Netzwerkentwicklung im Erwachsenenalter sind eher
struktureller Art oder fokussieren auf einzelne Domänen (soziale Bereiche).
Die strukturorientierte Theorie der unterbrochenen Dyaden (dyadic withdra-
wal, Johnson und Leslie 1982) beispielsweise nimmt an, dass mit dem Übergang
zur Partnerschaft, erst recht der Heirat, Freundesnetzwerke beider PartnerIn-
nen kleiner werden. Hierbei kann es sein, dass verschiedene Dyaden, etwa die
Partnerschaft und Freundschaftsbeziehungen, um die Ressourcen der Individuen
konkurrieren (competition principle), womit die wachsende Zuwendung zu Part-
nerInnen oder Kindern Abstriche in den peripheren Beziehungen nach sich zieht.
Neben der Konkurrenz sind im Sinne der Heider’schen Balancetheorie (siehe
Kap. „Netzwerktheorie(n)“) jedoch auch ausgleichende bzw. harmonisierende
Interaktionen von proximalen und distalen Beziehungen denkbar. Mit der Ver-
kleinerung der individuellen Netzwerke gehen dann oft eine Homogenisierung
und eine Überlappung der Freundesnetzwerke beider Partner einher (Kalmijn
2003), womit die Konkurrenz bzw. die Aufgabe von Freundesbeziehungen für
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Buch Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten - Eine neue Perspektive für die Forschung"
Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten
Eine neue Perspektive für die Forschung
- Titel
- Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten
- Untertitel
- Eine neue Perspektive für die Forschung
- Autoren
- Andreas Klärner
- Markus Gamper
- Sylvia Keim-Klärner
- Irene Moor
- Holger von der Lippe
- Herausgeber
- Nico Vonneilich
- Verlag
- Springer VS
- Ort
- Wiesbaden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-658-21659-7
- Abmessungen
- 14.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 436
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten – eine neue Perspektive für die Forschung 1
- Theoretische und methodische GrundlagenSoziale Beziehungen, soziales Kapital und sozialeNetzwerke – eine begriffliche Einordnung 33
- Netzwerktheorie(n) – Ein Überblick 49
- Wirkmechanismen in sozialen Netzwerken 65
- Negative Beziehungsaspekte und gesundheitliche Ungleichheiten 87
- Netzwerkanalyse – eine methodische Annäherung 109
- Soziale Netzwerke, familiales Sozialkapital und kindliche Gesundheit 137
- Soziale Netzwerke, Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheiten im Jugendalter 163
- Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im jungen und mittleren Erwachsenenalter 193
- Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Alter 227
- Ungleichheitsdimensionen Sozialer Status, soziale Beziehungen und Gesundheit 257
- Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheiten – Soziale Netzwerke im Kontext von Gesundheit und Gesundheitsverhalten 273
- Arbeitslosigkeit, soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten 309
- Soziale Netzwerke und die Gesundheit von Alleinerziehenden 329
- Soziale Netzwerke und Behinderung – Zugang und Stabilisierung der Einbindung in den allgemeinen Arbeitsmarkt 347
- Migration als gesundheitliche Ungleichheitsdimension? Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, Gesundheit und soziale Netzwerke 369