Seite - 36 - in Tonka
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der Welt ansieht und sie schon im Blick hat, so zerfällt sie in sinnlose
Einzelheiten, die so traurig getrennt voneinander leben wie die Sterne in der
Nacht. Er brauchte nur zum Fenster hinauszusehen, so schob sich plötzlich in
die Welt eines unten wartenden Droschkenkutschers die eines
vorübergehenden Beamten und es entstand etwas Aufgeschnittenes, ein
ekelhaftes Durcheinander, Ineinander und Nebeneinander auf der Straße, ein
Wirrwarr von bahnenziehenden Mittelpunkten, um deren jeden ein Kreis von
Weltgefallen und Selbstvertrauen lag, und das alles waren Hilfen, um aufrecht
durch eine Welt zu gehen, der das Oben und Unten fehlte. Wollen, Wissen
und Fühlen sind wie ein Knäuel verschlungen; man merkt es erst, wenn man
das Fadenende verliert; aber vielleicht kann man anders durch die Welt gehen
als am Faden der Wahrheit? In solchen Augenblicken, wo ihn von allen ein
Firnis der Kälte trennte, war Tonka mehr als ein Mädchen, da war sie fast eine
Sendung.
Er sagte sich: entweder muß ich Tonka zur Frau nehmen oder sie und diese
Gedanken verlassen.
Aber niemand wird es ihm übelnehmen, daß er aus solchen Gründen weder
das eine noch das andere tat. Denn alle solche Gedanken oder Eindrücke
mögen ja ihre Berechtigung haben, doch zweifelt heute niemand, daß sie zur
Hälfte nur Gespinst sind. Also dachte er sie und dachte sie nicht ganz ernst.
Er kam sich wohl manchmal wie geprüft vor, aber wenn er erwachte und zu
sich wieder wie zu einem Manne sprach, mußte er sich sagen, daß solche
Prüfung doch nur in der Frage bestand, ob er gegen die neunundneunzig
Prozent Wahrscheinlichkeit, daß er betrogen worden und ein Dummkopf sei,
gewaltsam am Tonka glauben wolle. Allerdings hatte diese beschämende
Möglichkeit schon viel von ihrer Wichtigkeit verloren.
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Buch Tonka"
Tonka
- Titel
- Tonka
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.8 cm
- Seiten
- 46
- Kategorien
- Weiteres Belletristik