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gestehen, und alles wäre gut; er wurde durch ihre Häufigkeit sehr verwirrt,
aber sie hatten nicht die unerträgliche Spannung des Halbwachens, die immer
höher hinausführen wollte.
In diesen Träumen war Tonka immer groß wie die Liebe und nicht mehr
das kleine mitgenommene Geschäftsmädchen, das sie war, aber sie sah stets
auch anders aus. Sie war zuweilen ihre eigene jüngere Schwester, die es
niemals gegeben hatte, und oft war sie bloß ein Rauschen von Röcken, der
Klang und Fall einer andern Stimme, die fremdeste und überraschendste
Bewegung, der ganze berauschende Reiz unbekannter Abenteuer, die in einer
nur im Traum möglichen Weise von der warmen Vertrautheit ihres Namens
ihm zugeführt wurden und eine mühelose Seligkeit des Vorbesitzes schon in
dem Augenblick spendeten, wo sie noch ganz Spannung des Unerreichten
waren. Eine scheinbar ungebundene, noch wesenlose Zuneigung und
übermenschliche Innigkeit trat mit diesen Doppelbildern in ihm auf, aber es
war nicht zu sagen, ob sie sich darin von Tonka lösen oder erst mit ihr
verbinden wollte. Wenn er darüber nachsann, erriet er, daß diese rätselhafte
Übertragungsfähigkeit und Unabhängigkeit der Liebe sich auch im Wachen
zeigen müsse. Nicht die Geliebte ist der Ursprung der scheinbar durch sie
erregten Gefühle, sondern diese werden wie ein Licht hinter sie gestellt; aber
während im Traum noch ein feiner Riß besteht, an dem sich die Liebe von der
Geliebten abhebt, ist er im Wachen verwachsen, als würde man bloß das
Opfer eines Doppelgänger-Spiels und von irgend etwas gezwungen, einen
Menschen für herrlich zu halten, der es nimmer ist. Er brachte es nicht über
sich, das Licht hinter Tonka zu stellen.
Aber es mußte damit zu tun haben und etwas Besonderes bedeuten, wie oft
er an Pferde dachte. Das war vielleicht Tonka und die Pferdelotterie mit den
Nieten, oder es war seine Kindheit, denn darin kamen schöne braune und
gescheckte Pferde vor, in schweren, mit Messing und Fellen beschlagenen
Geschirren. Und manchmal glühte plötzlich das Kinderherz in ihm auf, für
das Großmut, Güte und Glauben noch nicht Pflichten sind, um die man sich
nicht kümmert, sondern Ritter in einem Zaubergarten der Abenteuer und
Befreiungen. Es war aber vielleicht bloß das letzte Aufleuchten vor dem
letzten Verlöschen und der Reiz einer Narbe, die sich bildete. Denn die Pferde
zogen immer Holz, und die Brücke unter ihren Hufen gab einen dunklen
Holzlaut, und die Knechte trugen kurze, violett und braun gewürfelte Jacken.
Sie nahmen alle den Hut vor einem großen Kreuz ab mit einem blechernen
Christus, das in der Mitte der Brücke stand, nur ein kleiner Bub, der im
Winter bei der Brücke zuschaute, hatte den seinen nicht ziehen wollen, denn
er war schon klug und glaubte nicht. Da konnte er plötzlich seinen Rock nicht
zuknöpfen; er konnte es nicht. Der Frost hatte seine Fingerlein gelähmt, sie
faßten einen Knopf und zogen ihn mit Mühe heran, aber so wie sie ihn in das
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Buch Tonka"
Tonka
- Titel
- Tonka
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.8 cm
- Seiten
- 46
- Kategorien
- Weiteres Belletristik