Seite - 200 - in Wolfgang von Weisl - Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
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200 C. Wolfgang von Weisl
Er fand unsäglichen Jammer, unsäglichen Schmutz, unsägliche Unwissenheit in der
Judenschaft Jerusalems. Und in den kleinen, engen, überfüllten Häusern und Vierteln
der Altstadt sah er nicht einmal den Platz, um etwas Besseres an Stelle des Schlechten
zu setzen. Wollte man für die Juden Jerusalems etwas tun, dann musste man sie her-
ausführen aus dem Bann der »Heiligen Gemeinde«, aus den stickigen und stinkenden
Gassen der Türkenstadt, in denen sie eingesperrt waren ; in denen Menschen geboren
und zu Grabe getragen wurden, ohne dass sie einen Baum, eine Blume gesehen hatten.
Während draußen, vor der Stadtmauer, das Land weit offen war. Für Wind und Luft
und Regen. Auch dort war es kein Paradies, aber es gab dort wenigstens Sonne für die
kleinen Kinder und frische, kühle Luft für die alten Leute und die Möglichkeit zur
Sauberkeit.
Der wohltätige Sir Moses baute deshalb außerhalb der Stadtwälle am Rande der
Straße nach Hebron und oberhalb der kleinen Wasserfläche des »Sultan-Teiches«80
eine nette, kleine Siedlung. Ein Rechteck von Häusern für etwa achtzig Familien. Er
schenkte sie den Juden Jerusalems – die aber wollten sie nicht annehmen. Sie wollten
nicht aus der Altstadt fortziehen, wo sie und ihre Eltern gelebt hatten und wo Wälle
und Türme ihnen wenigstens Schutz vor Räubern gewährten. Da draußen, vor den
Stadtmauern : da war eine unbekannte Welt. Etwas für Abenteurer. Nichts für fromme,
sittenstrenge Juden Jerusalems.
So standen die sauberen, neuen Häuser leer
– bis Sir Moses jenen »Freiwilligen«, die
das Opfer brachten, in seinem neuen Viertel zu wohnen, außer freier Wohnung auch
noch ein kleines Gehalt in barem Geld aussetzte. Erst da fanden sich Pioniere, die sich
im »Zelt des Moses« niederließen
– der ersten Judensiedlung außerhalb der türkischen
Festungsmauer.81 Den »Eckstein« zu diesem »neuen Jerusalem« hatte der alte, fromme,
weißbärtige Sir Moses gelegt, als er in hochräderiger Victoria-Kutsche82 durchs Land
nicht fromm genug sei. […]. So gut wie jeder kolonisatorische Schritt geschah gegen den Willen
und oft trotz des Bannspruchs dieser Rabbiner.«
80 Sultan-Teich (Drachenbrunnen) : Wasserreservoir.
81 Anm. WvWs : »Heute leben dort hinter den alten Wällen nur mehr die Frömmsten der Frommen
oder die Ärmsten der Armen, was bei den Juden der Heiligen Stadt ziemlich gleichbedeutend ist.
Diesseits der Mauern aber dehnt sich eine neue Welt aus, und sie wächst von Jahr zu Jahr. »Neu-
gebautes Jerusalem« nennen seine Gründer stolz diese langgedehnte Stadt, eine kleine Welt für sich,
die vier Kilometer nach Westen, drei Kilometer weit nach Süden reicht, mit Universität und Spitä-
lern, mit Golfplätzen und Tenniscourts, mit Tanzkaffees und Tonkinos, mit Banken und Sportklubs,
mit Gartenstädten und Riesenhotels.«
82 Victoria-Kutsche : eleganter, leichter Pferdewagen für zwei Personen mit abnehmbarem Kutschbock,
so dass es möglich ist, die Kutsche ohne Kutscher von der Sitzbank aus zu lenken, benannt nach der
britischen Königin Victoria (1819–1901).
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Titel
- Wolfgang von Weisl
- Untertitel
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Herausgeber
- Dietmar Goltschnigg
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 362
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355