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TOMAŠ GARRIGUE MASARYK – DER WEG ZUR WISSENSCHAFT#

Ernst Bruckmüller

Geb. in Göding (Hodonín) 7. 3. 1850
Gestorben in Lana (Laný) 14. 9. 1937

Der junge Masaryk ging zu Göding in die Volksschule, begann die Lehre eines Schmieds und besuchte dann doch das Gymnasium in Brünn und Wien. Ab 1872 besuchte der die Wiener Universität, wo er sich ab 1873 ganz der Philsophie zuwandte. Hier war Franz Brentano sein Lehrer. 1876 Dr. phil., habilitierte er sich schon 1879 mit einer Studie zum Selbstmord (Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 1881 im Druck) für Philosophie und Soziologie. Damit bearbeitete er ein wichtiges Thema – Emile Durkheims große Studie erschien 1897. Durkheim hat Masaryk genannt, zumindest im Literaturverzeichnis zitiert (im Text habe ich hingegen keinen Hinweis auf Masaryks Buchgefunden). Es ist möglich, dass Masaryk durch den Selbstmord eines Knechtes oder Landarbeiters motiviert wurde – er soll als Kind bei der Bergung der Leiche dabei gewesen sein.

In der Vorrede zu seinem Buch (die Habilitationsschrift ist online zugänglich), schreibt Masaryk:
„Die Erscheinung des Selbstmordes ist gewiss in jedem einzelnen Falle höchst interessant; aber ein ganz besonderes Interesse erweckt er als sociale Massenerscheinung. Die Selbstmordneigung tritt gegenwärtig in allen civilisirten Ländern mit erschreckender Intensität auf: bei uns in Oesterreich (Cisleithanien) werden jährlich 2600 Selbstmorde constatirt, in Deutschland etwa 9000, in Frankreich gegen 7000; in allen europäischen Ländern, aus denen wir officielle Berichte haben, zählt man jährlich mindestens 22.000 Fälle. Sollte es wahr sein, wie Viele glauben, dass die statistischen Daten höchstens die Hälfte der verübten — und versuchten Selbstmorde ausweisen, so würden in den civilisirten Staaten Europas jährlich etwa 50.000 Menschen Hand an sich legen.(…)“
Aufgabe seines Buches sei es „(…)zu zeigen, wie sich die Massenerscheinung des Selbstmordes aus und in dem modernen Culturleben entwickelt hat.“
Masaryk fasst seine Studie als eine soziologische auf. Die Soziologie als Wissenschaft sei, so der Autor „wenigstens bei uns (also in Wien, E.B.) noch wenig bekannt(…)“. Eine Spezialunterschung hält er jedenfalls für fruchtbarer als das „vorschnelle Aufstellen“ allgemeiner theoretischer Systeme.
Die Studie ist – nach einer begrifflichen Einleitung - nach dem Ausschlussprinzip aufgebaut: Nacheinander diskutiert der Autor mögliche Einflussfaktoren auf das menschliche Verhalten und insbesondere auf die Suizid-Neigung. Er beginnt mit der Natur, fährt mit der physischen und psychischen Beschaffenheit der Menschen und den gesellschaftlichen Verhältnissen fort. Alle diese Faktoren können im Einzelfall die Selbstmordneigung beeinflussen, aber als ausschlaggebend sieht sie der Autor nicht. Unter den politischen Verhältnissen misst er immerhin dem Militarismus eine gewisse Bedeutung zu – Österreich-Ungarn lag bei Soldatenselbstmorden in Europa an der Spitze.So kamen auf 100 männliche zivile Suizidfälle militärische Selbstmörder in

  • Österreich 1851-1857 643
  • Schweden 1851—1855 423
  • Preussen 1849 293
  • Frankreich 1856—1860 253
  • Württemberg 1846—1850 192
  • Sachsen 1847—1858 177
  • Dänemark 1845—1856 (98?)

Auch plötzlich auftretende wirtschaftliche Krisen, wie jene von 1873, können die Selbstmordzahlen beeinflussen. 20 — 30 % der Selbstmorde seien auf ökonomische Faktoren zurück zu führen: „Entschieden ungünstig, disponirend und determinirend, wirkt das Elend; es versetzt den, der ihm anheimfäll, in einen pathologischen, psychosen Zustand, und der Selbstmord erscheint dann als das Endglied einer langen Kette von unbeschreiblichen Trübsalen.“ Die ackerbautreibende Landbevölkerung weise eine geringere Selbstmordfrequenz auf als die gewerbliche und städtische. Eigentümlicher Weise erscheint aber der ökonomische Fortschritt mit einem ständigen Anwachsen der Selbstmordfrequenz verbunden.
Die zentrale Ursache für die Zunahme der Selbstmordneigung in den „zivilisierten“ Völkern – die damals noch so genannten „Wilden“ kannten den individuellen Selbstmord kaum – sieht der Autor in ungünstigen Verhältnissen, die „unsittliche Motive“ begünstigen, wie „…Affect, Leidenschaft (unglückliche Liebe, Ehrgeiz, Grössenwahn); Lebensüberdruss (taedium vitae); Alcoholismus; die geschlechtliche Unsittlichkeit; den Selbstmord nach Mord und Torschlag“. Die moderne Selbstmordneigung führte Masaryk letztlich auf die Irreligiosität zurück. Bevor Masaryk diese These noch genauer ausführt, beschäftigt er sich – auch darin ganz auf der Höhe der damals zeitgenössischen Diskurse – mit der Frage, inwiefern die Selbstmordneigung mit psychotischen Zuständen zusammenhinge. Psychosen entstünden, so Masaryk, in modernen Gesellschaften mit wachsender Häufigkeit. Psychose und Selbstmordneigung seien „Teilphänomene“ desselben sozialen Prozesses. Die moderne Gesellschaft erzeuge gewisse „Wahnideen“, die sowohl in die Psychose wie zum Selbstmord führen könnten. Allerdings differenziert Masaryk diese These mit dem Hinweis auf das periodische Auftreten von Selbstmordneigungen auch unter anderen historischen Umständen. So seien bei Griechen und Römern Selbstmorde zeitweilig häufig gewesen.
Krankhafte Selbstmordneigung sei letztlich nur bei zivilisierten Nationen anzutreffen. Dabei zeigten sich typische Unterschiede. Die meisten Fälle waren in Skandinavien zu beobachten, gefolgt von Deutschen und Franzosen. England hatte deutlich weniger Suizidfälle, am wenigsten Italiener und Portugiesen.

Die moderne Zivilisation in Europa beruhe auf zwei miteinander konkurrierenden Grundprinzipien, Katholizismus und Protestantismus. Die moderne Geistesentwicklung habe jedoch die Religion aus der Erklärung von Natur, Geist und Geschichte ausgeschaltet, bei den Protestanten zuerst. Bis zur Gegenwart habe diese Entwicklung zu einer intellektuellen und moralischen Anarchie geführt. Dieser Kulturkampf habe aber letztlich nur „Halbbildung, Halbheit und Irreligiosität“ hervorgebracht. Und im Verlust der Religion sei „die Quelle der Unzufriedenheit, des Pessimismus und des Lebensüberdrusses“ zu suchen. Masaryk untersucht daher in einem weiteren Abschnitt seines Buches den religiösen Zustand der zivilisierten Nationen. Dabei vergleicht er vorherrschende Formen von Religiosität mit der Selbstmordneigung. Diese sei bei den protestantischen Völkern des Nordens sehr hoch, weniger ausgeprägt bei Katholiken und noch weniger bei den russischen oder griechischen Orthodoxen. Freilich muss Masaryk zugeben, dass doch auch nicht unerhebliche zusätzliche Faktoren wirksam würden. So sei in Schottland ein herber und strenger Calvinismus verbreitet, der die an sich verderbliche Wirkung des dort weit verbreiteten Alkoholismus wieder konterkariere. Für die USA konstatiert Masaryk, der ja mit einer Amerikanerin verheiratet war, eine starke Religiosität, mit immer neuen Denominationen (Freikirchen). Diese breite „religiöse Erregung“ führe zwar dazu, dass in Nordamerika psychische Erkrankungen recht häufig wären, die Selbstmordneigung sei aber gering.
Das Buch endet mit „therapeutischen“ Vorschlägen, die letztlich auf eine neue Religiosität hinauslaufen. Wie und in welcher Weise die Arbeit von Masaryks Lehrer Franz Brentano (1838 – 1917) beeinflusst wurde, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Brentano war jedenfalls eine ebenso starke wie umstrittene Persönlichkeit. Der Neffe von Clemens Brentano war Philosoph mit starken theologischen Neigungen. 1862 Dr. phil. in Tübingen mit einer Arbeit über Aristoteles, wurde er 1864 in Würzburg zum Priester geweiht. 1866 erfolgte die Habilitation mit einem Buch über „Die Psychologie des Aristoteteles“. 1872 wurde er ao. Prof. an der Universität Würzburg. Wegen des päpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas, welches das 1. Vatikanische Konzil beschloss, gab er sein Priestertum 1872 auf und legte 1873 die Professur zurück. Im Jahr darauf wurde er an die philosophische Fakultät nach Wien berufen. Damit wurde er österreichischer Staatsbürger. Rasch erlangte er einen hervorragenden Ruf als Universitätslehrer. Er verliebte sich in Ida Lieben, eine sehr wohlhabende Dame aus der „haute juiverie“ Wiens, die in dem großen Ringstraßenpalais neben dem Burggtheater (Café Landtmann) lebte. Die spöttischen Wiener Witzbolde meinten, in Anspielung auf den gewaltigen, eines griechischen Popen würdigen Bart, dass „ein byzantinischer Christ seinen Guldgrund suchte:“ (Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt/M. 1982, S. 282). So bekam Brentano Zutritt zu dem ebenso einflussreichen Familienclan Auspitz – Lieben – Gomperz – Todesco (und kommt daher auch ausgiebig in „Fünfzig Jahres eines Wiener Hauses“ von Josefine Winter, Wien-Leipzig 1927, einer Tochter von Rudolf Auspitz und Helene Lieben, vor). Allerdings durfte ein ehemaliger Priester nicht heiraten. Daher legte er 1880 die Staatsbürgerschaft und die Professur zurück und die beiden heirateten in Leipzig. Er blieb aber in Wien Privatdozent. Nach dem frühen Tod seiner Frau (1894) verließ er Wien. Brentano vertrat eine streng wissenschaftliche, empirisch arbeitende Philosophie und Psychologie. In der dreibändigen „Psychologie vom empirischen Standpunkte“ (1874) entwickelte er eine eigene Methodik. Brentano beeinflusste neben Masaryk Edmund Husserl, Carl Stumpf, Alexius Meinong. Christian Baron Ehrenfels u.a. (ÖBL, 2. Aufl., Online vom 30. 11. 2015, W.Huemer).

Masaryks Beschäftigung mit dem Selbstmord hatte ein leicht humoriges Nachspiel. Er wurde ja 1879 habilitiert (für Philosophie und Soziologie) und wurde 1882 als ao. Prof. an die gerade geteilte Prager Universität, tschechischer Teil, berufen. Hier engagierte er sich bald gemeinsam mit einer Reihe anderer Professoren in der Öffentlichkeit. Unter diesen jüngeren Professoren befanden sich unter anderen Albin Bráf, Josef Kaizl, Josef Kral und Jan Gebauer, Antonín Rezek und Jaroslav Goll. Und eben Masaryk. Seit 1883 gab er mit anderen die Zeitschrift „Athenäum“ als Begegnungsstätte dieser neuen Geistigkeit heraus. Masaryk schrieb einen programmatischen Artikel in der Juniausgabe 1985 „Wie unsere wissenschaftliche Literatur zu fördern ist.“ Er wandte sich gegen die Überbetonung der Geschichtswissenschaft und forderte mehr Politik- und Gesellschaftswissenschaften, aber auch mehr Naturwissenschaften und Technik. Dafür legte er einen konkreten Elfpunkteplan vor - für neue wissenschaftliche Fachzeitschriften, ein neues Lexikon, eine tschechische Akademie der Wissenschaften, weitere tschechische Hochschulen.

Der Sprachwissenschaftler Jan Gebauer arbeitete an eine historischen Grammatik des Tschechischen. Diese Arbeiten weckten seine Zweifel an der Echtheit der berühmten Handschriften (Königinhofer, Grünberger). Gebauer hatte schon in den 1880er Jahren in einem deutschsprachigen Lexikon seine Zweifel wissenschaftlich korrekt, wenngleich vorsichtig angemeldet. Jetzt wollte er das Problem in Böhmen diskutieren. 1885 erschien der deutsche Artikel, dagegen erschienen wütende Attacken der Handschriften-Gläubigen. Masaryk erklärte sich bereit, im Athenäum zwei Artikel Gebauers zu publizieren, in denen dieser forderte, die Handschriften nochmals zu untersuchen. Masaryk bezog in Form eines ebenfalls abgedruckten Briefes an Gebauer eine konsequente programmatische Position: Er forderte von der tschechischen Wissenschaft, die bisherige passive Position in Sachen Handschriften zu beenden. Es sei ein unnatürlicher Zustand, die Zweifel an ihrer Echtheit als ein öffentliches Geheimnis zu behandeln, über das man eben nicht spricht. Aus sittlichen und politischen Gründen hielt Masaryk es für unverzichtbar, die wissenschaftliche Wahrheit schonungslos aufzudecken. Masaryk formulierte darüber hinaus eigene Bedenken über die Echtheit der Handschriften und bat Gebauer um wissenschaftliche Beweise pro oder contra. „Jeden vernünftigen Menschen wird natürlich die Enttäuschung, die uns meiner Meinung nach erwartet, schmerzen; ich bin aber überzeugt davon, daß es in unserem Volk genügend nervenstarke Leute gibt, die in der Lage sind, die ungute Botschaft zu verkraften….“

Im Dezember 1886 erschien eine neue Zeitschrift, „Čas“ (die Zeit). Chefredakteur war Jan Herben, ein begeisterter Anhänger Masaryks. Die Reaktion Grégors, des erbitterten Masaryk-Gegners: „Philosophen des Selbstmords“ (Národný listy 19. 2. 1887). Eine offensichtliche Anspielung an Masaryks Habilitationsschrift! Neben Masaryk werden später auch Goll, Rezek oder Kaizl als „Selbstmörder“ bezeichnet. (Otto Urban, Die tschechische Gesellschaft 1848 – 1918, Wien 1994, Band 1, insbes. S. 555 – 570). Aber spätestens damit haben wir jenes Feld verlassen, das wir als Masaryks Weg in die Wissenschaft bezeichnet haben.