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Zdenka BECKER: Es ist schon fast halb zwölf#

Zdenka BECKER: Es ist schon fast halb zwölf / Roman, Amalthea, 2022 / Rezension von Guenther Johann

Zdenka BECKER: Es ist schon fast halb zwölf
Zdenka BECKER: Es ist schon fast halb zwölf

BECKER, Zdenka: „Es ist schon fast halb zwölf“, Wien 2022

Der siebente Roman von Zdenka Becker. Ich verfolge ihre literarische Arbeit von Anbeginn und bin immer wieder erstaunt wie uns eine Nicht-Muttersprachliche vorführt, wie sie sich großartig in deutscher Sprache ausdrückt. Ich begegne ihr daher mit mehr Respekt als anderen Schriftstellerinnen. So habe ich auch auf diesen neuen Roman schon gewartet. Sie hatte mir schon vor Längerem erzählt, dass sie daran arbeitet. Durch die derzeitige Corona Pandemie verzögert sich aber vieles und auch Lesungen werden nicht so bald möglich sein. Aber das Lesen kann uns auch dieser Virus nicht nehmen. „Es ist schon fast halb zwölf“ ist wieder eine Familiengeschichte. Sie handelt in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Erzählung stammt aus der Jetztzeit. Ein altes Ehepaar – Karl und Hilde – genießen ihren Lebensabend. Sie sind schon gebrechlich und der Mann dement. Geduldig muss sich die Ehefrau mit ihrem Mann abgeben, der sie oft nicht mehr erkennt. Ihre Kinder würden sie gerne in einem Altersheim sehen. Hilde will aber ihren Lebensabend im eigenen Haus verbringen. Ein junger Zivildiener hilft dabei. Hilde denkt nach, was aus all ihren Sachen einmal werden wird. Wahrscheinlich werden die Kinder alles wegwerfen denkt sie. Da kommt ihr eine Kiste mit Briefen und Fotos in den Sinn, die am Dachboden steht und lässt sich diese vom Zivildiener bringen. Sie liest in alten Briefen und Erinnerungen werden wach. Erinnerungen an den Beginn ihrer Liebschaft und Ehe. Der Mann hat die Vergangenheit vergessen und sie frischt sie mit Hilfe der Briefe auf.

Zdenka Becker komponiert aus über 500 Briefen, die sie am Dachboden ihres Hauses gefunden hatte, und einer von ihr dazu erfundenen Geschichte einen Roman. Sie beschreibt das Leben eines jungen Paares, das während des Zweiten Weltkriegs gelebt hat. Damit liefert sie ein zeitgeschichtliches Dokument aus der Zeit der Kriegswirren.

Die Hauptperson des Romans ist Hilde, weil ihr dementer Mann ja nicht mehr viel zu sagen hat. Als sie über den Briefen sitzt, merkt sie, dass sie es mit zwei Frauen zu tun hat: mit der jungen, die sie einmal war und der alten. Zwei Frauen, „die so unterschiedlich , so anders sind. Die junge, ängstliche und sich ständig anpassende Frau mit jungen, drallen Formen und verunsichertem Blick und die alte, von der Mühsal der Jahre gebückt, faltige Greisin, die, wäre da nicht die bewegte Vergangenheit, die auf ihren Schultern lastet, in sich ruhen und ihren Lebensabend genießen könnte.“ (Seite 83) Die Briefe sind das Skelett dieses Romans. Da sie aus einer wirklich stattgefundenen Korrespondenz stammen, sind sie Zeitzeugnisse. Posthum sollte daher das Briefe schreibende Ehepaar einen Literatur- oder Wissenschaftspreis bekommen. Auch trifft die Formulierung „Das Leben schreibt Geschichten, wie man sie nicht erfinden kann“ zu. Zdenka Becker fügt alles so zusammen, dass alle nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen hautnah erleben können, wie es den Menschen damals ergangen ist. Der in Österreich (Ostmark) arbeitslose Karl findet 1938 einen Job in einem Flugzeugmotorenwerk in Berlin. Er heiratet seine Hilde. Zuerst leben sie noch getrennt, aber Hilde zieht zu ihrem Mann nach Berlin. Dort leidet sie unter Heimweh. „Ich glaube, damals in Berlin habe ich begriffen, was ein Zuhause ausmacht. Das ist der Ort, an dem man mit der Erde verwurzelt ist, wo sich die Familie regelmäßig am Esstisch trifft, wo Geschichten erzählt werden und wo Umarmungen aus Zuneigung und Liebe erwachsen.“ (Seite 125) „Für die Berliner war ich eine aus der Ostmark, ein Landei, ein Dummerl, das nichts kennt und nichts weiß. Diese Zerrissenheit tat mir nicht gut, aber sosehr ich mich auch bemühte, eine von ihnen zu sein, war ich doch die ganze Zeit eine Außenseiterin.“ Sie siedelt wieder zurück nach Niederösterreich. Aber auch da fühlt sie sich fremd. Die Einheimischen glauben, sie komme aus der großen Stadt Berlin und begegnen ihr reserviert. In größeren Abständen besucht sie ihren Mann. Mit zunehmenden Kriegsgeschehnissen werden die Besuche weniger. Auch der ursprünglich überzeugte Nationalsozialist Karl merkt, dass die Vorgänge des Kriegs nicht in Ordnung sind. Um die Fabrik vor dem Bombardement der Alliierten zu schützen, wird sein Arbeitsplatz in ein ehemaliges Gipsbergwerk verlegt. Die Arbeit wird härter und ungesunder. Im Stollen ist es feucht und kalt. Die Arbeiter werden öfter krank. Briefe verbinden das Ehepaar, das inzwischen eine kleine Tochter hat. Er muss sich eingestehen, dass aus seinem Idol Hitler nicht das geworden war, was er sich erhoffte. „von den Berlinern, die frisch hier angekommen sind, hört man allerhand. Es sollen grausame Bilder zu sehen sein. Erfrorene Kinder, die die Flucht nicht überlebt haben, abgemagerte Erwachsene, amputierte Invaliden, Verwirrte. Überall Dreck und Gestank. Viele Züge sind auch für den allgemeinen Verkehr gesperrt und nur den Evakuierten und Flüchtlingen zugewiesen. Die Schnellzüge verkehren fast nicht mehr. Für die Strecke Wien-Berlin würde man mindestens drei bis vier Tage brauchen.“ (Seite 224) Aber auch die vielen Details, die sich das Ehepaar in ihren Briefen schreibt, zeigen dem heutigen Leser die damalige Lebenssituation. Nach Kriegsende kamen keine Briefe mehr. Hilde weiß nicht, was aus ihrem Karl geworden ist, bis er schließlich nach einem halben Jahr nach Hause kommt. Geistig ist er aber noch nicht zu Hause. In der Nacht wacht er auf. Erinnerungen an die Kriegszeit kommen hoch. Erlebnisse mit Sträflingen aus dem Konzentrationslager, die in seiner Fabrik arbeiten mussten. Als sein Sohn geboren wird, verschließt sich Karl und erzählt nichts mehr aus der Kriegszeit. Aber auch Hilde hat ein Geheimnis aus dieser Zeit. Ein Mitbewohner des Dorfs, der sich als Laienhistoriker betätigt und dessen Nichte mit ihrem Freund bringen sie zu einem Geständnis.

Parallel zum Leben während der Kriegsjahre beschreibt die Autorin auch, wie es alten Menschen geht. Menschen, die nicht loslassen können und nicht akzeptieren wollen, dass sie noch allein leben können. Beides fließt in den 256 Seiten des Romans zusammen.