Drittes Kapitel: Adam 1#
Der Typus einer Zeit#
Das allgemeine und das alltägliche Unterfangen Typen zu finden, auszumachen, zu erkennen und zu analysieren, sowie der Versuch der Wissenschaft Typologien aufzustellen, stellen Unternehmungen dar, die insbesondere auf Ordnung abzielen. Auch der Wunsch nach Verständigung, nach Lesbarkeit und Erkenntnis spielt dabei mit. Das Wirkliche in seinen unermeßlich vielfältigen Ausformungen ist zwar zu überschauen, nicht aber zu erkennen. Gemeinsamkeiten herzustellen nach gleichen Merkmalen, Vielfalt zu ordnen, ist es, was eine gelungene Typologie ausmacht.
Wenn man so will ist eine Typologie auch eine Art Vorurteilsbildung. Das Angleichen nach äußeren Merkmalen, nach augenscheinlichen Gemeinsamkeiten beruht nicht immer auf innerer Erkenntnis oder auf Verstandestätigkeit. Es ist viel eher das unmittelbare Einordnen, die spontane Urteilsfindung, die emotionale Formung eines Rasters, nach dem die Vielfalt näher an die Wahrnehmung rücken kann. Die Bildung eines Vorurteils ist daher zuweilen mit Fehlern behaftet, sie ist unwissenschaftlich, sie ist mitunter unmenschlich. Für die Entwicklung des Einzelnen, phylogenetisch wie ontogenetisch, bedeutet sie hingegen ein probates Mittel, sich in der verwirrend vielfältigen Wirklichkeit zu orientieren und zurecht zu finden.
In der Psychologie hat es in deren Geschichte viele Versuche gegeben, menschliches Verhalten nach Typologien zu ordnen. In der Geschichte der Medizin ist die »Humoralmedizin«, Hippocrates zuzuschreiben, ein Versuch, nach den vier Arten der »Säfte des Menschen« (heute würde man sagen: nach den endokrinalen Drüsenfunktionen) vier Arten von Temperamenten zuzuordnen: cholerisch, phlegmatisch, melancholisch, sanguinisch. In der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde versucht, den Gesunden vom Kranken zu unterscheiden; die Auffassung Lombrosos, den Künstler in die Nähe eines wie man heute sagen würde psychisch Kranken zu rücken, stellt eine Variation davon dar. C.G. Jungs Typologie der Extraversion und Introversion ist ebenfalls eine Art von Temperamentenlehre, wobei die Zuwendung versus der Abwendung von der Gemeinschaft deren Hauptmerkmale darstellt.
Auch die Konstitutionspsychologien von Kretschmer und Sheldon, den Körperbau mit dem Charakter in eine Verbindung zu bringen, stellen weitere Unterfangen dieser Art dar. Auch alle physiognomischen Typologien, wonach die rein äußerlichen Merkmale eines Menschen wie Gesichtsform, Nasenlänge, Stirnansatz u.a. auf eine innere Disposition des Verhaltens hinweisen, wie es Carus, Gall und Lavater u.a. versucht haben, weisen in eine ähnliche Richtung. An solchen äußerlichen und »oberflächlichen« Typologien treten denn auch deren Schwachstellen zutage.
In der Psychologie ist man daher insgesamt zu zwei unterschiedlichen Auffassungen gelangt: einmal die erwähnten Versuche, unterschiedliches Verhalten zu Typologien zu bündeln; auf der anderen Seite die, die unvergleichliche Einmaligkeit des Einzelnen herauszuheben. Die Typologie stellt also in der Polarität »Allgemeines versus Besonderes« die Richtung dar, in der Gemeinsamkeiten verbinden, oder aber die, wonach es zu keinen Gemeinsamkeiten kommen kann.
Auch der bildende Künstler schwankt zwischen dieser Polarität. Will er, ausgesprochen oder nicht, ein Bild seiner Zeit gestalten, muß er notgedrungen zu Vereinfachungen, zur Vorurteilsbildung kommen. Er muß in diesem Falle rein wahrnehmungsmäßig, nicht etwa psychologisch, zu einem Erkennen und Analysieren, sowie zu einem Gestalten gemeinsamer Merkmale vordringen. Sei es, wie etwa in der figurativen Malerei, im Ausdruck der Körperhaltung, des Gesichtsausdrucks, der Farbgebung oder in irgend einer anderen formalen Weise; kurzum es gilt, gemeinsame Merkmale und Eigenschaften auszudrücken. Der Künstler ist, obwohl auf einer ganz anderen Ebene als der Wissenschaftler, davon getrieben, in seine Kunst das zeitgenössisch Typische, gestaltet, miteinfließen zu lassen.
Typologien zu bilden bedeutet aber keineswegs nur eine Angelegenheit der Psychologie, der Sozialwissenschaften oder der Kunst. Sondern das Bilden von Typologien ereignet sich auch in fast allen übrigen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und alltäglichen Bereichen. So werden etwa in politischer Hinsicht immer wieder Versuche unternommen, Typologien einer Zeit herauszufiltern. Der Revolutionär der französischen Revolution, der Sansculotte, der Adlige; im Anschluß daran der Bürger, oder auch der Biedermeier, der Proletarier, der Demokrat, der Republikaner, der Kleinbürger, all dies sind Versuche, eine Zeit nach wie auch immer gearteten politischen und handlungsmäßigen äußerlich entzifferbaren Gemeinsamkeiten zu ordnen und sie damit überhaupt einer Beurteilung oder einer Bewertung zuzuführen.
Im Bereich von Kulturgeschichte lassen sich ähnliche Unterfangen feststellen, so wenn etwa im Mittelalter ein scheinbarer Typus des Unaufgeklärten gegenüber einer nachfolgenden Zeit der Aufklärung eines Erkennenden, Aufgeklärten, eines illuminierten Typen dingfest gemacht wird. Diese Versuche reichen bis zu den ominösen Typologien der Frankfurter Schule, in denen der Aufgeklärte vor dem Banausen rangiert, also jenem Halbgebildeten, der, in den Augen der Frankfurter Schule, noch schlechter abschneidet und tiefer sinkt, indem er abgesenkt wird, als der Ungebildete.
Adam, die Ikone einer Zeit#
Jeder Einzelne bildet einen Teil des Typus seiner Zeit. Die Zeit des Rudolf Hausner umfaßt eine Spanne, die lebenszeitlich gesehen, bis heute, von 1914 bis 1994 reicht. Diese Zeit muß man, will man Rudolf Hausners Typus Adam verstehen, vor dem inneren Auge Revue passieren lassen. Es ist ein Zeitraum, der fast ein ganzes Jahrhundert umfaßt. Hausners Adam entsteht zwar erst gegen Ende der 30er Jahre, in ihm eingeflossen sind aber immerhin die mehrfachen Erfahrungen seines Schöpfers. Adam ist, ingesamt gesehen und auf einer allgemeinen Ebene, ein Typus eines Jahrhunderts, und im speziellen, der des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Rudolf Hausner ist in seiner frühesten Kindheit noch geprägt durch die Allgegenwärtigkeit und Omnipotenz der österreichischen Monarchie. Wie Ulrich, der »Mann ohne Eigenschaften« ist er ein Produkt Kakaniens. Obwohl Hausner selbst seine Geistwerdung teilweise mit der Bekanntschaft mit der Psychologie, insbesondere der Psychoanalyse, begründet, so ist in ihm doch auch jene Weltsicht mitangelegt, die in dieser österreichischmonarchistischen Sichtweise global enthalten ist. Und wie immer man zu dieser Monarchie stehen mag - gerade heuzutage wird ihre Zeit ja zuweilen mehr verklärt als erklärt - ist doch eine Epoche der Offenheit und eine Weite der Sicht und ein Geprägtsein durch ein Weltreich unverkennbar. So klein Österreich heute weltpolitisch dastehen mag, so großartig im buchstäblichen Sinne war der Geist, der trotz der Metternichschen Borniertheit, der Biedermännischen Kleinkariertheit und Kaiserlichen Entrücktheit die Sichtweisen gestaltete. Das berühmte »Wien um 1900«, in dem nicht nur eine europäische, sondern eine Weltelite an Mentalitäten sich formierte, gibt davon Ausdruck. Auch Hausner ist durch diese Mentalität eines Weltreiches weitaus komplexer geprägt, als nur durch die Lehren der Psychologie oder der Psychoanalyse.
Hausner wird in seiner Kindheit, seine Umwelt osmotisch aufnehmend, mit den Wirrnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit vertraut, die in den 20er Jahren Europa, insbesondere Deutschland und Österreich, erfaßt. Die Armut der Eltern, aus kleinen Verhältnissen stammend, prägen auch seine Kindheit. Die Garnspule, ein unverkennbares Symbol der Hausnerschen Malerei, das bis in die Gegenwart immer wieder darin aufscheint, ist schließlich das Spielzeug eines Kindes, das über nicht viel mehr verfügt als über die Gebrauchsgegenstände seiner Eltern; die Mutter näht, um zusätzlich Geld zu verdienen. In der Archäologie der Hausnerschen Symbolwelt ist die Zeit der frühen 20er Jahre ein unverkennbares Merkmal seiner Person- und Objektfindungen. Auch die nachfolgende, ihrerseits völlig anders geartete Zeit des Austromarxismus und des Austrofaschismus, ja auch des sogenannten Klerikalfaschismus österreichischer Prägung haben Hausner nachhaltig geformt. Die Hinwendung zu sozialistischen und kommunistischen Ideologien stellt ein folgerichtiges Mittel des Verhaltens des jungen Rudolf Hausner dar.
Diese Haltung wird noch verstärkt nach dem »Anschluß« Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Hausners Ausstellungsverbot durch die sogenannte Reichskulturkammer formt ihn noch deutlicher. Aus Trotz, wie aus einer Panzerung gegen die Wirrnisse und abgründigen Zustände jener Zeit, hält er an seiner verurteilten Malerei fest. Ein typisches Merkmal der Hausnerschen Malerei: ihre Konsequenz. Der Zweite Weltkrieg wird ihm dann den sogenannten Tatrablick (Hausner, R. Ich, Adam. Entwicklungen und Spiegelungen in Bildern., Hg. Schurian, W., München, 1987. S. 40ff.) eröffnen, mit dem er, und das stellt einen ganz besonderen Einschnitt in seiner Entwicklung dar, sich von der Realität des Kriegsdienstes abwendet, indem er seinen Blick auf anscheinend nebensächliche Eigenschaften von Objekten richtet, nämlich die Maserungen einer Holzwand einer Hütte. In der Fixierung auf solche, nur auf den ersten Blick, Oberflächen und Nebensächlichkeiten, gelingt es ihm, sich einen visuellen und psychischen Fixpunkt in der changierenden und verwirrend sich ändernden äußeren Welt anzueignen. Dieses Festhalten an einmal Erkanntem, sowohl visuell äußerlich als auch geistig innerlich, ist, wie gesagt, eines der auffallenden Merkmale der Hausnerschen Malerei. Das Insistieren auf Erkennen, das Beharren auf der Imagination und das Festhalten am einmal geformten Bild, vor allem an seinem Adam, sind die wesentlichen Merkmale der Hausnerschen Persönlichkeit und Malerei.
Während sich in der Malerei, der Wissenschaft und in der allgemeinen geistigen Ausrichtung die jungen Intellektuellen und Künstler, vor allem die sogenannten Avantgarden, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches schnurstracks dem neuesten Trend, der aus dem Westen weht, zuwendet, bleibt Hausner, wie einige wenige andere seiner Generation, nicht nur seinem gefundenen Stil und Inhalten verbunden, sondern er vertieft diese sogar weiter. Jetzt, als alle Welt sich wendet - wie es später, Ende der 80er Jahre wieder zu einer Wendezeit jeglichen Couleurs kommen wird - geht Hausner in die Tiefe. Er sucht, sich seine einmal gefundene und geformte Haltung und Sichtweisen zu verankern. Er bleibt, wie man so sagt, sich und seinen Ansichten treu. Er erarbeitet sich und er erfindet ein Bild seiner Zeit, das schließlich zu einem Menschenbild eines Jahrhunderts wird.
Die 60er Jahre bedeuten für Hausner die Zeit der Reife, der »Generativität«, des Schöpferischen wie des Persönlichen seiner Arbeit. Es ist die Zeit des Erwachsenwerdens in jeder Hinsicht. Und es ist die Zeit, indem das Erkannte weiter gegeben wird an seine Angehörigen, an seine Kinder, und in seiner Arbeit, als Leiter von Meisterklassen, an seine Studenten. Hausner ist einer jener Hochschullehrer, die wie kaum andere eine eigene Schule gründen. Sowohl in seiner Persönlichkeit, als auch in seinem Lehrstil - der im Hinführen des Studenten zu seinem eigenen Ausdruck besteht - initiiert er eine eigene Richtung. Seine Schüler bilden mittlerweile bereits die Vorhut neuer Entwicklungen und Tendenzen.
Das wesentliche Merkmal besteht indessen darin, daß Hausner nicht nur in seiner Malerei immer mehr zu sich selbst und zu seinem Gegenstand findet, sondern daß er in diesem Vertiefen eine eigene Richtung entwirft. In der Kunstszene Europas nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart herrscht ja die schiere Beliebigkeit. Alles ist erlaubt, jeder wird zum Künstler deklariert; und Kunst wird zu einem Massenartikel. Die Avantgarden reichen sich einander die Türklinken weiter und das Neueste von heute ist bereits das Alte von morgen. Der Markt dominiert nicht nur die Szene, sondern die Szene paßt sich jeweils geschickt dem Markt und den jeweiligen Tendenzen an. Wendezeiten überall.
Hausner, wie wenige andere in der europäischen Kunst, geht einen eigenen Weg. Er ist unberührbar von den jeweiligen, modischen Ereignissen und Strömungen. Hausner gelangt zu seiner intendierten Introspektion, zu einem freiwilligen Hinwenden und zu einer Fokussierung auf das ihm wesentlich Erscheinende: das Erarbeiten und das Gestalten eines Menschenbildes seiner Zeit, nach seinen Vorstellungen. Hausners Adam, als Typus dieser Zeit, beinhaltet viel von ihren Merkmalen. Zum Beispiel: die unbeteiligte und gleichzeitig die teilnehmende Beobachtung, sowie das Sicheinbringen in den Akt der Beobachtung selber. Adam ist ein Zeitgenosse, der anscheinend unberührt ist von den Wenden seiner Zeit und seiner Zeitgenossen, der aber diese sehr genau registriert.
Künstler hat es immer gegeben, die unbeirrbar an ihren Gegenständen, ihren Inhalten, an ihrem Stil festgehalten haben; dies aus Trotz, aus innerer Haltung oder aus sonstigen Beweggründen. Dieses Festhalten am einmal als richtig oder wesentlich Erkannten stellt indes noch kein Gütekriterium oder ein Mittel der Bewertbarkeit dar. Im Fall von Rudolf Hausner ist dies jedoch insofern anders, als er mit seiner Fixierung auf seinen Adam, wie im nachhinein zu erkennen, den Nerv einer Zeit getroffen hat. Die Beobachtung als Mittel ersetzt das Engagement, die Individualisierung als Haltung ersetzt die Sozialisierung und das erblickende Wahrnehmen ersetzt das Gerede oder gar das Geschwätz.
Ausschnitte aus 'Handicap', 1986:
Adam, der Beobachter#
Obwohl Rudolf Hausner ein nüchterner, sezierender, notierender, fast wissenschaftlich objektivierender Beobachter ist, ist Adam nicht nur - obwohl zum Teil naturgemäß auch - eine Projektion von ihm selbst. Adam ist ein Gegenbild, ein Gegenstand, ein von Hausner verselbständigter Entwurf; und zwar eines Bildes eines Typus einer Zeit ein Menschenbild. Daß dem so ist, kann nur im nachhinein erkannt werden. Hausner ist selbstverständlich kein Wissenschaftler, kein Analysant seiner Zeit, sondern er ist in erster Linie ein Maler. Daß Hausner darüber hinaus ein scharfsinnig Erkennender und ein umsichtiger Diskutant ist, steht auf einem anderen Blatt. In seine Malerei fließt davon immerhin die Sicht eines Intellektuellen mit ein. An erster Stelle steht die Malerei. Sie schafft sich in Rudolf Hausner ihren eigenen Gegenstand, ihre eigene Welt: seine, durch unverwechselbare Handschrift geschärfte Malerei, erschafft sich selbst und das Bild des Adam.
Im nachhinein kann nämlich ausgemacht werden, wie die Figur des Adam sich aus skizzierenden Ansätzen, aus dem Zusammenhang von ganz anderen Abbildungen, aus dem Kontext einer weit umfassenderen, zuweilen auch anders gelagerten Ausrichtung zusammensetzt, das diese dann ausbildet. Von heute aus wird ersichtlich, wie diese unbeirrbare Haltung die Malerei zu eben diesem Ergebnis geführt hat. Das fast ausschließliche Zentrieren auf die eine Gestalt des Adam, die dadurch zu einem Typus einer Zeit wird, ist die Methode, der Weg, der dorthin führt. (Daß in Adam insgesamt noch Eva, das weibliche, und der Narrenhut als das männliche Pendant, enthalten sind, darauf wird noch eingegangen) Adam ist in erster Linie ein Beobachter. Das Beobachten ist sein vorrangiger und auffallender Charakterzug. Er ist ein Beobachter des Zeitgeschehens wie seiner selbst. Adam bildet eines jener Systeme, das beobachtend sich selbst wahrnimmt. In dieser selbstorganisierenden Annäherung an die Zeit und an sich selbst stellt er den typischen Vertreter jener Zeit dar, die ihrerseits, bezogen auf die Verhaltensebenen, vorrangig aus Beobachtungen besteht. Das Engagement, das politische etwa, die Öffentlichkeit, die Veröffentlichung, auch die Selbstdarstellung, die Selbstveröffentlichung, all dies weicht immer mehr der teilnehmenden und nichtteilnehmenden Beobachtung. Der Typus des Zeitgenossen ist der des Beobachters. Hausner spricht von einem »laokoonischen Bewußtsein«. (Hausner, R., Ich, Adam. Entdeckungen und Spiegelungen in Bildern., Hg. Schurian, W., München, 1987., S. 88.)
Da der Worte und der Taten in der Vergangenheit zuviel gewechselt sind, kann man sich anscheinend davon abwenden. Der Sinn heute steht nicht mehr danach. Dennoch kann man seine Sinne auf die Zeit selbst ausrichten. Der Mensch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, geprägt durch politische Wirren und extreme Ausschläge und Unruhen von ungeahntem Ausmaß, scheint nunmehr genug davon zu haben. Er wird zum Nichtteilnehmer, er wird zum Nichtwähler, er wird zum Nichtengagierten; er wird aber durch all das noch lange nicht zum Unpolitischen. Politik verlagert sich viel mehr nach innen. Wenn das Politische das Innenleben des Einzelnen formt, dann bedeutet dies, daß das Psychische die Formierung gegen die Vergesellschaftung ist. Die Ausbildung des Lustprinzips ist das Gegengift gegen das ubiquitäre Realitätsprinzip. Zwischen beiden herrscht aber keine Balance mehr, wie von Freud noch postuliert; der Rückzug ins Innere, selbst noch in eine weinerliche Innerlichkeit, stellt ein Mittel bereit, um der Veräußerung, der Entäußerung, zu entgehen.
Der Beobachter gestaltet, indem er wahrnimmt, seine Innenansichten. Er formiert sich selber über das, was er sieht. Zunächst einmal beobachtet er. Er nimmt auf und er nimmt an, was sich ihm darbietet. Er urteilt nicht, sondern er sieht, er kritisiert nicht, sondern er lernt. Was sich daraus ergibt, steht auf einem anderen Blatt. Genau das geschieht auf dem Gesicht Adams. Er ist der Beobachter par excellence. Er besteht fast nur aus seinen Augen. Mit emporgerücktem Haupt, mit prominenter Nase, mit sinnlich vollem, geschlossenen Mund und mit einem Blick wie aus einem Objektiv, erblickt er die Welt. Und in dieser Welt wird er sich selber gewahr. Die Welt existiert nur in seiner Beobachtung. In diesem Sinn ist Hausner eben auch ein Produkt der Erkenntnistheorien Ernst Machs, wonach die Erkenntnis der Welt in erster Linie aus den sinnlichen Wahrnehmungen besteht.
Adam ist ein Wahrnehmender. Er schaut. Er ist geprägt vor allem durch seine visuelle Wahrnehmung. Er ist damit jener Zeitgenosse, der in erster Linie aus der Imagination besteht. Die Bildmedien, der Film, das Fernsehen und die verschiedenen anderen »virtuellen« Realitäten, richten sich in erster Linie an die Augen. In dieser Hinsicht ist Adam seinem Schöpfer natürlich verwandt, wenn nicht gar identisch. Für den Maler existiert die Welt mittels seiner Augen. In der Brechung und in dem Fluß der Lichtwellen, in dem Entwurf auf seiner Retina, in der Umformung in seinem Sehzentrum, setzen sich die verschiedenen Informationen clursterhaft zu Bildern, zu einem »Strom des Bewußtseins« (William James) zusammen.
Wie in dem Modell des Hologramms, wie in der Parallelschaltung verschiedener Nerventätigkeiten zu Gehirnfunktionen, geht es auch dem Maler darum, aus verschiedenen einzelnen Impulsen eine Ganzheit, ein Bild zu formen. Die verwirrende Vielfalt wird durch die Malerei gesammelt und nicht nur dem eigenen Auge zur Anschauung gebracht, sondern darüber hinaus zu einem Eindruck nach außen geführt. Ein Eindruck, der dann von an- deren nicht nur ebenfalls wahrgenommen, sondern teilnehmend mitbeobachtet werden kann. Über die Bilder eines Malers kann der Einzelne seine Zeit wie in einem Raster sehen, er lernt durch sie erst erkennen. In der prismatischen Verschiebung, in der Brechung der Farben und Formen, wird die Andersartigkeit der Welt durch den Blick des Malers, der wie bei Hausners Adam den Nerv seiner Zeit trifft, auf einen Punkt gebracht. In Adam kann sich jeder selbst erkennen.
Adam, als der wahrnehmende Beobachter ist Walter Benjamins Flaneur, dem Wanderer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, verwandt. Er ist, wie ein Beobachter, fixiert an einen Punkt. Adam besitzt Bodenhaftung. Er wandert nicht mehr umher, sondern er hat einen Standpunkt eingenommen. Er hat einen Punkt besetzt, von dem aus er seine Beobachtungen anstellen kann. Er besitzt den Kontakt zur Wirklichkeit, zum Alltäglichen und zum Historischen, von wo aus sich die ganzheitlichen Wahrnehmungen zu einem komplexen Gebilde formieren.(Gibson, J.J. Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung., München-Wien-Baltimore, 1982)
Adam ist ausgestattet mit einem »Poker face«. Es ist das mimisch Unbewegte, das Unberührte, das in Adam zum Vorschein gelangt. Nicht nur der immer wieder frontal auf den Betrachter gerichtete, quasi spiegelbildliche Blick ist es, der Adam zu dem macht, was er ist, sondern die daraus sich ableitende Haltung. Adam mit den leicht resignativ hochgezogenen Schultern hat seinen Punkt gefunden, auf dem er unbewegt dessen harrt, was da kommt. In dem unbewegten Gesichtsausdruck liegt das Abbild eines äußerlichen Unbeteiligtseins. Wie der Versuchsleiter in einem Experiment, der seine Anordnungen an die Versuchspersonen gibt, ein unbewegtes Gesicht tragen soll, um keine Beeinflussungen daraus in das Verhalten der Versuchspersonen einfließen zu lassen, so schaut Adam in die Welt. Er schaut drein wie ein wissenschaftlicher Beobachter. Er nimmt auf, was sich ihm anbietet. Das Urteil überläßt er anderen.
Er läßt sich nicht in seine Karten schauen. Indem er nichts von sich preisgibt, verführt er den Betrachter, in dessen Inneres zu schauen. Indem er anscheinend eine Leere vorspiegelt, schafft er erst jenen Raum, wo der Betrachter seine eigenen Imaginationen hervor- und seine Projektionen einbringen kann. Die unbewegliche Mimik Adams ist begleitet von einem Zug einer leicht depressiv eingetrübten Haltung. Adam schaut nicht einladend, nicht annehmend, nicht sinnlich, gar fröhlich drein, sondern er ist durch die Geschehnisse seiner Zeit gezeichnet. Einer, der durch ein Jahrhundert gewandert ist, das wie kein anderes von extremen Ereignissen heimgesucht wurde, sich dort und da umgeschaut hat, kann wohl, so scheint es, nur einen solch ungerührten Gesichtsausdruck zur Schau tragen, um dahinter seine ihm eigene Haltung zu bewahren. Adam ist weit entfernt von den ständig lächelnden Zeitgenossen, die sich dem grinsenden und gröhlenden Showgewerbe allerorts schon angepaßt haben. Er ist kein Produkt des Entertainments, sondern einer Beobachtung einer Zeit.
Ein anderer Charakterzug von Adam ist es, daß er abwartet. Adam agiert nicht, noch reagiert er. Der Adam der 80er Jahre wartet nur noch ab. Der von früher zeigt zuweilen noch Gefühle: wie im Erschrockener Europäer oder Adam, warum zitterst du??, als er von den Zeitläuften noch unmittelbar berührt scheint. Der Adam der Spätzeit verharrt; dadurch ist er in seinen Gefühlen kontrolliert. Er läßt sich weder hin- noch herreißen, er läßt sich nicht anstecken durch die Geschehnisse. Er hat, indem er eine Haltung, einen Standpunkt gefunden, indem er die Beobachtung als den Weg erkannt hat, die Zeit zu erkennen und sie auszuhalten, ein Verhalten sich eingeübt, Gefühle zu verbergen. Vielleicht sind gegenwärtig Gefühle ohnehin zu einem Luxus des psychischen Haushaltes geworden. Die Zeit der unterschiedlichen Anteilnahmen und Engagements hat mancherorts Frustration hinterlassen. Die Kontrolle des Gefühlshaushaltes bedeutet daher jenes notwendige Regulativ, um eine Gegenrichtung anzusteuern. Die Gefühle, die man einst nach außen brachte, bleiben nun verschlossen. Sie existieren und wirken dennoch weiter. Sie werden nur nicht mehr zur Schau gestellt.
Adam ist gekennzeichnet durch das eigentliche Merkmal des nichtteilnehmenden Beobachters. Derjenige, der hinter der Fassade seiner Körperlichkeit, hinter der Spiegelung seines Blickes, das Innere, wie immer gehaltvoll es auch sein mag, kaschiert, ist derjenige, der aufnimmt. Indem er sich wie einen Spiegel dem Betrachter entgegenbringt, kann sich dieser ebenfalls erkennen. Es ist kein Zerrspiegel, es ist keine Über- und keine Unterzeichnung, sondern es ist das Gesicht eines Menschen, nicht mehr und nicht weniger. Das Gesicht eines Zeitgenossen, in dem die Zeit sich entwicklungsgeschichtlich eingegraben hat. Es enthält die anthropologische Konstante, das Humanum, das vieles und viele Zeiten überstanden hat. Es widerspiegelt und repräsentiert die eigentliche Bewegung des Laufes der Geschichte. Genau das drückt sich in Adam aus. Er will nicht mehr scheinen, als er ist, er ist das, was er scheint.
Diesen Typus hat Ernst Jünger als den »Waldgänger« oder als den »Anarchien« beschrieben wie z.B. in seinem Eumeswil. Jüngst skizziert er ihn noch einmal so: »Der Anarch ist ein Optimist, der von seiner Macht überzeugt ist, doch auch ihre Grenzen kennt. Er geht soweit, aber auch nicht weiter, als Zeit und Umstände es zulassen. Im Grunde ist er der Normale; das Besondere ist nur, daß er die Norm als ein Gesetz erkennt. Er billigt das auch jedem anderen zu. Als Bürger wird er meist unauffällig leben, sich der Kritik enthalten und schwer zu begeistern sein. Das schließt ein wohlwollendes, auf innere Überlegenheit gegründetes Verhältnis zur Autorität nicht aus.« (Jünger, E. Siebzig verweht III. Stuttgart, 1993, S. 433.)
Adam, das Individuum#
Adam ist ein Europäer. Einer, der sich aus den Wirren der Zeit herausgeschält hat als die Konstante in geographischer, historischer und politischer Sicht. Der Österreicher, der Deutsche, der Franzose, der Italiener haben als Typen an ihrer Nationalität und an Geschichte eingebüßt. An ihre Stelle tritt der Europäer; den hat es natürlich in irgend einer Weise schon vorher gegeben, oder den gibt es als solchen vielleicht nur schimärenhaft. Nun aber beherrscht er mehr und mehr auch als eine politische Größe die Bühne. Adam ist nicht leicht national zu entziffern, er hat keine Merkmale äußerer Art, die ihn als solchen oder jenen, als Vertreter eines ganz bestimmten Landes, einer Richtung, einer Geographie identifizierbar machen. Sondern er weist ein Gesicht vor, das ihn in seiner Wachheit, seiner Lebendigkeit, wie in seiner depressiv getönten Resignation als den eines Europäers erkennbar machen. Adam ist offen für Gemeinsamkeiten. Er bringt das ein, was die Geschichte ihm angetan hat, um neue Horizonte ausfindig zu machen.
Und schließlich ist Adam der Typus des Individualisten. Als Europäer ist er gezeichnet durch eine ganz bestimmte »Ich-Identität«. Damit ist eine Unverwechselbarkeit angesprochen, sowohl in biologischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Als identisch ist derjenige zu kennzeichnen, der sich trotz äußerer Veränderungen selbst als kontinuierlich wahrnimmt und erkennt. So wie der Jugendliche, wenn auch erstaunt, aber dennoch erkennt, daß er einmal ein Kind gewesen ist, und so wie der Erwachsene all dieses, als eigene Geschichte erkennen und annehmen lernt, so präsentiert sich Adam im Lauf seiner Entwicklung als gleichbleibend. Und als solcher stellt er sich dar.
Der Individualismus des Europäers ist sowohl geschichtlich als auch psychologisch dem für Gemeinschaft und Gesellschaftlichkeit offenen Nordamerikaner, wie auch dem staatsorientierten Bewußtsein asiatischer Ausprägung entgegengesetzt. Der Individualismus ist eine Konstante nicht nur der Philosophie europäischer Provenienz, sondern ihrer Geschichte. Das Erkennen des Selbst, die Versuche, Antworten auf die ewigen Fragen der Sphinx zu finden, sind nicht nur in der europäischen Mythologie verankert, sondern sie sind das Ergebnis einer besonderen Sozialisation. Als solches repräsentiert - »vergegenwärtigt« - Adam die Ideale wie die Fallstricke, die Möglichkeiten wie die Grenzen solchen Prozesses der Individuation.
Wenn heute davon die Rede ist, daß die Fixierung auf die Identität, die Fixierung auf den Einzelnen, die Individualität, den Sinn für das Gemeinsame, für das Soziale verdrängt haben, so ist dies die eine Seite. Diese kann und muß vielleicht wieder korrigiert werden. Dennoch ist und bleibt die Individualisierung die vertikale Richtung von oben nach unten, das Hineingehen in die eigene Person, das Suchen nach dem eigentlichen Spiegelbild, dasjenige, was den Europäer wesentlich zuzufallen scheint. Es ist sein Fluch, aber auch sein Reichtum und seine Möglichkeit.
Wie immer man zur Individualisation auch stehen mag, sie ist eine Aufgabe von Hausners Adam, der er sich stellt. Denn trotz aller Hinwendung zu sozialen Beziehungen, trotz aller Verankerung im Hier und Jetzt, ist es eine Erkenntnis des europäischen Geistes, daß letztlich jeder für sich selbst lebt, jeder sich selbst der Nächste ist, ob er dies will oder nicht. Jeder bleibt seiner Haut verhaftet, jeder muß mit seiner »Persona« zurechtkommen, jeder lebt und stirbt letztlich immer nur allein. Die Hinwendung und die Verankerung im Sozialen sind die Hilfsmittel, um diese letzte Erkenntnis und schmerzliche Erfahrung überhaupt ertragen zu können.
Jede große Bildkunst, die sich an einem Menschenbild versucht, hat dieses letztliche Verankertsein in einem Selbst zum Gegenstand. Sie hat in erster Linie das Individuum abzubilden, und nicht das soziale Wesen. Sie beschreibt, indem sie den Einzelnen erkennt, den unverwechselbaren Zeitgenossen in seinem Wesen und verhilft ihm zu seinem Ausdruck. Das ist in Adam nachdrücklich angelegt. Oder wie Claude Levi-Strauss am Schluß seines Essays, in dem er auf die Vergänglichkeit der Kunst zu sprechen kommt, notiert: »Wollte man willkürlich zehn oder zwanzig Jahrtausende der Geschichte auslöschen, es würde unsere Kenntnis der menschlichen Natur nicht beeinträchtigen. Der einzige unersetzbare Verlust wäre der der Kunstwerke, die die Jahrtausende entstehen sahen. Wie das Bildwerk aus Holz, das in einem Baumstamm schlummerte, erbringen allein sie den Beweis, daß sich bei den Menschen im Laufe der Zeit wirklich etwas ereignet hat.« (Levi-Strauß, C. Regarder, ecouter, lire. Paris, 1993)
Inhaltsübersicht#
- Einleitung: Adam, ein Typus des Jahrhunderts
- Erstes Kapitel: Leonardo
- Zweites Kapitel: Familienbild
- Drittes Kapitel: Adam 1
- Viertes Kapitel: Eva
- Fünftes Kapitel: Adam 2
- Sechstes Kapitel: Adam 3
- Siebtes Kapitel: Narrenhut
- Achtes Kapitel: Labyrinth
- Neuntes Kapitel: Adam 4
- Werkmonographie
© Walter Schurian, Hausner- Neue Bilder - 1982-1994, Edition Volker Huber