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Sechstes Kapitel: Adam 3#

Adam - Ein Film#

Erinnerung
Erinnerung, 1987

Daß Adam, der Beobachter mit seiner nach innen gewandten Such- und Sammlertätigkeit, lebendig bewegt wirkt, verdankt er einem Wesen der Hausnerschen Malerei, welche immer offener zutage tritt, unmittelbar erkennbar und einsichtig wird: ihrer Nähe zum Film. In der bildenden Kunst stellt das einzelne Bild, eine Skulptur, ein Objekt eines Malers oder Bildhauers eine in sich geschlossene Einheit dar. Daß sich aus der Zusammenschau dieser einzelnen Einheiten erstaunlicherweise eine Abfolge, eine Bewegung, eine Sequenz ergibt, liegt in der Natur der visuellen Betrachtung und der immanenten Tendenz ganzheitlicher Wahrnehmungen: daß sich nämlich unabdingbar aus Einzelteilen Ganzheiten formen. Dieses aus der Gestaltpsychologie erkannte Gesetz, wonach einzelne Teile, werden sie zeitlich miteinander verknüpft, als »Bewegung« erscheinen, die ihrerseits eine Gestalt bildet, trifft insbesondere auf die Malerei Rudolf Hausners zu.

Dies zeigt sich z.B. daran, daß aus den Einzelteilen wie den Farbpigmenten, den Malmitteln, den chemisch-physikalischen Reaktionen dieser Teile untereinander, deren Verbindung zum Malgrund, die Lichtreflektionen und anderes mehr, daß sich weiterhin aus den stilistischen Merkmalen, aus der Komposition und schließlich aus den unterschiedlichen Inhalten bei Hausner eine Adam-Story ergibt, das heißt eine Abfolge, eine Geschichte, in der erzählt wird: die Entwicklung des Protagonisten Adam. Die Figur des Adam lebt dadurch, daß sich über das Zusammenfügen der Einzelbilder eine Bewegung beim Betrachter abspult, der dieser sich nicht entziehen kann. Dabei verbinden sich Einzelbilder zu Sequenzen aufgrund der bekannten Tatsache einer optischen Täuschung wie bei der einer in sich verknüpften Abfolge von Einzelbildern zu Bewegungen.

Dies ist das Wesen des Films. Vorläufer des Films sind ja jene schnell umzublätternden Büchlein, in denen gezeichnete Figuren in unterschiedlichen Posen dargestellt sind. Beim Durchblättern entsteht die Illusion der Bewegung, d.h. über die optische Wahrnehmung der Nachbilder entsteht das Kontinuum einer Bewegung. Der Film beruht auf dieser genial einfachen Tatsache, daß sich die einzelnen Standbilder, die »Stills«, durch ihre Abfolge in der Zeit zu einer Bewegung verbinden und die dargestellten Personen und Gegenstände zu leben beginnen. Die aus einer solch einfachen Kenntnis gewonnene Technik hat sich in diesem Jahrhundert zu einer Kunst ohnegleichen entwickelt. Das 20. Jahrhundert ist, von der Kunst aus betrachtet, das Jahrhundert des Films. Er hat mehr Menschen erreicht als jede Art von Kunst bis dato zusammengenommen. Er hat das Leben der Menschen nachhaltiger beeinflußt und verändert als irgendeine Form der Beeinflussung überhaupt je zuvor. Dies rührt von ganz unterschiedlichen Tatsachen her, wie z.B. von den politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen in diesem Jahrhundert; es beruht auf den Interaktionen und Kommunikationsformen, die sich daraus ableiten, und auf der zunehmenden Verstädterung der Bevölkerung in allen Erdteilen, woraus sich sowohl neue Sozialisations- als auch Individuationsformen ableiten.

Erinnerung
Erinnerung, 1987, Ausschnitt

Dennoch bleibt es in irgendeiner Weise ein Geheimnis, wie aus den ursprünglich durchaus primitiven »Lichtspielen«, aus den Lichtspielapparaten, aus den sogenannten Nickelodeons, die sich einst in einigen Vierteln von New York etablierten, um Passanten für ein paar Pfennige zu unterhalten, eine so mächtige Kunst wurde und sich eine Megain-dustrie entwickeln konnte, die das Verhalten von unzähligen Menschen beeinflußen kann. (Prophetisch sprechen llja Ehrenburg und Rene Fülöp-Miller von »Traumfabrik« bzw. »Phantasiemaschine«.) (Vgl. Kracauer, S. Der verbotene Blick. Leipzig, 1992)

Diese Beeinflussung ist nun keineswegs nur dadurch zu erklären, daß immer mehr Menschen immer mehr Zeit vor solchen modernen Lichtspielapparaten wie dem Fernseher verbringen. Sondern es ist ein Phänomen, daß sie über Videos und neue Formen des sogenannten interaktiven Fernsehens, bis hin zu solchen Spielereien wie Cyberspace, immer mehr, freiwillig oder nicht, eingebunden werden in ein optisch gesteuertes Verhalten, das sie organismisch mehr oder weniger gänzlich tangiert und in Beschlag nimmt.

Auch Adam ist davon betroffen. Auf einigen Bildern, wie zum Beispiel Jessica und Tanja, Annes Paravent, Im Oktogon, Adam objektiv, taucht die Technik des Fernsehens direkt oder zitiert auf, so etwa in Form von Testbildern oder der Andeutung der Mattscheibe. Wie schon erwähnt, ist Adam seiner Zeit zugewandt, er ist Teil dieser Zeit, er ist wie alle anderen - ob gewollt oder nicht, direkt oder indirekt, bewußt oder unbewußt, intentional oder zufällig - Teilnehmer an dieser Technik des Films. Daß die einzelnen Adam-Bilder sich selbst zu einer eigenen Sequenz verbinden, wodurch für den Betrachter durch die Abfolge eine unmittelbar nachvollziehbare Entwicklung eines Individuums in diesem Jahrhundert simuliert wird und gleichzeitig mehr als simuliert, nämlich imaginiert wird, ist eine der bedeutenden Eigenschaften Hausner-scher Malerei.

Rudolf Hausner hat sich einmal dahingehend geäußert, daß ihm vorschwebte, jede Woche unter stets gleichbleibenden Versuchsbedingungen (Entfernung, Beleuchtung etc.) ein Foto eines einzigen Menschen, zum Beispiel von seiner Tochter aufzunehmen, um nach ein paar Jahren diese Bilder zu einer Sequenz in Abfolge zu montieren und betrachten zu können. (Hausner,R. Adam, Eine Entwicklung. In: Schurian, W., Hg.) Kunstpsychologie heute. Göttingen, 1993) Daraus könnten, so Hausner, die Entwicklungen über körperliche Veränderungen, über Haltungen und Verhaltensweisen ersichtlich werden. Er hat weiterhin darauf verwiesen, wie ihm durch seine Adam-Bilder in Abänderung diese Art von Technik als eine Methode vor Augen schwebt. In Wirklichkeit hat Hausner nun genau dieses getan. Er hat sich auf diese eine Figur fixiert, welche sich ihrerseits aufgrund erster Bilder, Selbstporträts oder vor allem aus der Arche des Odysseus ergab. Aus diesen zufälligen Einzelheiten hat er sich die Adam-Figur ermalt und bis heute, erstaunlicherweise noch intensiver als zuvor, sich auf sie fokussiert.

Erinnerung
Erinnerung, 1987, Ausschnitt

Aus der Entwicklungspsychologie sind ähnliche Experimente zu berichten. Dabei werden Filmaufnahmen angefertigt von Individuen, vom Kleinkind, vom Säugling über das Kindesalter bis zum Jugendalter; vorstellbar sind auch Entwicklungen bis zum hohen Alter, ja bis zum Tod. Die Zeitraffermethode macht die entwicklungstypischen Veränderungen sichtbar, erweckt sie zum Leben. Bekannt ist aus der Erfahrung, wie fast jedes Elternpaar einmal das Verlangen oder zumindest den Wunsch hegt, Fotos oder neuerdings Videoaufnahmen von der Entwicklung ihres Kindes herzustellen, um später zu sehen, wie es laufen lernt, zu reden beginnt und anderes mehr. (Daß solche Versuche über die Anfänge selten hinausgehen, liegt in der Natur der Sache. Aus dieser Technik erwächst hierbei eben keine verselbständigte Form, da die Beschäftigung mit dem Kind ein weitaus größeres Abenteuer darstellt, als es über die filmische Aufzeichnung herzustellen wäre.)

Anders verhält es sich natürlich in der Malerei, in der diese Technik eine besondere Stellung einnimmt und als Methode einen Inhalt gebiert, der anders nicht zu gewinnen ist. Die Malerei von Hausner weist nicht so sehr die oft beschworene »altmeisterliche Technik« vor (Hausner malt weitaus impressionistischer und auch spontan expressiver, schaut man nur nahe genug hin), sondern die unverwechselbare Methode Hausners besteht darin, daß er durch die Anzahl der Adam-Bilder, also über die Quantität, eine eigene Qualität, nämlich die Bewegung, das Leben, die Existenz eines ansonsten leblosen Gegenstands hervorruft. Insofern ist Hausner in seiner Malerei ein filmischer Künstler. Daß Hausner außerdem aber auch in seinem Privatleben eng mit dem Film verbunden ist, zeigt seine Faszination, die er, wie andere seiner Generation, für den Film teilt. Er hat sich nicht nur vor und nach dem Krieg intensiv mit den verschiedenen Filmen auseinandergesetzt, er hat sich von ihnen unterhalten lassen, ist von ihnen beeinflußt worden. Ja in diesem Sinn ist er, wie die Nachkriegsgeneration überhaupt, durch den Film insofern zutiefst und nachhaltig geformt worden, als er über den Film die Welt kennengelernt hat. (Außerdem lebte er einst, am Rande bemerkt, lange Zeit in einem Atelier im Wiener 9. Bezirk über einem Lichtspieltheater mit dem Namen: »Weltbiograph«!).

Einige seiner Adam-Köpfe scheinen im Begriff zu sein, ein Ereignis zu beobachten. Die frontale En-face-Haltung, der leicht nach oben gewandte Schädel, die zusammengekniffenen Augen, die aber auf eine besondere Fixation ausgerichtet zu sein scheinen, könnten sich gerade eine Aktion in Bewegung anschauen. Der Betrachter von Hausners Adam-Köpfen erlebt auf diese Weise eine dreifache Reflexion: indem er Adam anschaut, der seinerseits einen Film zu betrachten scheint, spielt er selber einen Part in diesem. Diese Verdreifachung ruft einen stereoskopischen Effekt hervor, da ein interaktives Filmgeschehen durch die Malerei in Gang gesetzt ist. Der Betrachter des Adams wird, ob er will oder nicht, in eine Handlung miteinbezogen, deren Teil er selbst ist. Er ist nicht nur der Zeitgenosse dieses Adams, sondern er ist als unbeteiligter Beobachter Teil einer beteiligten filmischen Beobachtungssequenz.

Obwohl Adam als ein Typus eines Europäers zu beschreiben ist, ist er im Zusammenhang mit der Methode und der Malerei in Sequenzen, die einem Filmablauf nahekommen, noch unter einer anderen Perspektive zu betrachten. Wie die Entwicklung des Films im 20. Jahrhundert zeigt, kristallisiert sich neben den lokalen und nationalen Interessen und den Schauspielerpersönlichkeiten unterschiedlicher Herkunft ein Trend zu einer allgemeinen Weltsprache des Films heraus. Diese Weltsprache ist die des Hollywoodkinos. Sie beruht zum Teil auf der kosmopolitischen Einstellung der Filmindustrie, der Tendenz der möglichst weiten Verbreitung; dies ist ihre immanente ökonomische Natur. Ein anderer Grund für die weltweit verständliche Bildsprache des Hollywoodkinos liegt in der multinationalen Herkunft der Gründungsväter der großen Filmfirmen sowie der Regisseure und Techniker, die aus Europa, Asien, Afrika und Südamerika nach Hollywood kamen und dort während und nach dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht und Arbeit fanden. Deren Sprache war naturgemäß international. Figuren wie Billy Wilder, Otto Preminger, William Dieterle, Ernst Lubitsch, Luis Bunuel, Elia Kazan und viele andere haben dazu beigetragen, daß sich eine internationale Bildsprache des Films ausbilden konnte. (Lebrun, D. Von Europa nach Hollywood. Die Europäer im amerikanischen Kino. Berlin, 1993)

Es gibt abernoch einen anderen Grund. Und hier berührt sich die weltweit verständliche Bildsprache des Kinos mit der Bildsprache von Hausners Adam. Die liegt in der Physiognomie. Der Adam Hausners ist physiogno-misch ein national und geographisch unidenti-fizierbarer Typ. Er ist sowohl von seiner Körpersprache als auch vom mimischen und gestischen Ausdruck zwar unverwechselbar, er ist aber auch universell. Sein Gesicht ist in Japan so bekannt wie in Europa. Adam ist zu einer Art Lingua Franca, einer allgemein verständlichen Sprache im Hinblick auf die Bildlichkeit geworden, zu einer unmittelbaren, körperlich vermittelten Verständlichkeit als Typus. Dieser ist heute ebenso international in seiner Selbstpräsentation, in seiner zeitgenössischen Sichdarbietung. Adam ist in seinem unmittelbaren Ausdruck international, er ist allen verständlich.

Das Filmische an Hausners Adam-Figur läßt sich in folgendem Szenario nachstellen. Fotografiert man alle Adam-Köpfe nacheinander aus einem gleichen Kamerawinkel, aus gleicher Entfernung, als Standphotos, und nimmt den geometrischen Mittelpunkt des Gesichts als zentralen Fokuspunkt für alle Bilder an und stellt daraus eine Filmsequenz her und läßt diese ablaufen, so ergeben sich interessante Effekte. Der Mittelpunkt wird weitgehend konstant bleiben: das unbewegte Gesicht, die Nase als Zentrum, die Augenpartie, die Backen, der Mund, dann das Kinn, die Haare, die jeweilige Kopfbedeckung, die Ohren. Dieses Zentrum, der Kopf Adams, wird sich dennoch von Bild zu Bild beinahe unmerklich ändern, da es einen Alterungsprozeß darstellt. Dieser vollzieht sich subliminal und ist zu studieren über die unvergleichlich eindringliche Darstellung der Haut. Es ist nicht auszuschließen, daß jede einzelne Pore des Gesichts sich in ihren Veränderungen zeigt, suggeriert von der exakt beobachtenden Malweise.

Um dieses Zentrum herum ergibt sich außerhalb des Kopfes dann eine Konstellation, die sich merklich ändert. Es tauchen andere Figuren auf, Gegenstände, Hintergründe, Settings. In einer Abfolge - wenn man sich die einzelnen Aufnahmen nun nacheinander z.B. als Video anschaut - ergibt sich über die Technik der Überblendung, bei der ein Bild langsam zeitlich in ein anderes nachfolgendes übergeht, eine bezeichnende Konstellation, bei der das Zentrum fast identisch bleibt, aber inhaltlich sich in Veränderung, in Entwicklung befindet. Es zeigt sich ein Prozeß des Alterns vom Zentrum nach außen hin. Je weiter man vom Zentrum aus den Bildrand betrachtet, um so mehr zeichnen sich rasche, schnittartige, ruckartige Überblendungen, Überlagerungen und veränderte Konstellationen ab. Ein solcher Adam-Film (der sich bereits in Ansätzen in Realisation befindet) würde nicht nur mit Hilfe der Filmtechnik zeigen, daß es sich hier in der Tat um eine filmartige Malerei handelt, sondern daß die Malerei selber die Illusion einer filmischen Abfolge kreiert. Insofern ist nicht nur die Maltechnik dem Film verwandt, sondern die Adam-Geschichte selber stellt einen Film dar. Dieser erscheint insbesondere dem heutigen Betrachter seltsam vertraut, weil dieser, wenn er auch der Malerei vielleicht kein Interesse entgegenbringt, durch seine Sehgewohnheiten über Film und Fernsehen in einer bestimmten Betrachtungs- und Wahrnehmungsweise geschult und eingeübt ist. Auch hierin ist Adam ein Zeitgenosse.

Distanzen bei der Bildbetrachtung#

David
David, 1987

Eine aus der Wahrnehmungspsychologie und der Praxis der Kunst- und Bildbetrachtung bekannte Tatsache besagt, daß die Distanz des Betrachters zum Bild einerseits, wie der Winkel der Betrachtung andererseits, von entscheidender Bedeutung für die Aufnahme der bildmäßigen Information sind. Hierzu gibt es bereits mehrere Untersuchungen, die zum Beispiel den idealen Standpunkt bei der Bildbetrachtung analysieren. Es zeigen sich die bekannten Bildschwerpunkte, die ihrerseits durch den Winkel der Betrachtung von rechts oder links, von oben, auf gleicher Augenhöhe oder eher von unten, und so weiter, in Betracht ziehen. (Kreitler, H. und Kreitler, S. Psychologie der Kunst. Stuttgart, 1980. Arnheim, R. Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln, 1977) Diese »Gesichtspunkte« zeigen, inwieweit die Distanz des Betrachters zum Bild eine Rolle spielt, vor allem was zunächst einmal die bloße Informationsaufnahme betrifft. So wirken bei der Lasurmalerei die changierenden Farbschichten jeweils so, wie der Lichteinfall und der Winkel zum Auge des Betrachters eingenommen wird.

Von zusätzlicher Bedeutung sind die aus der »ökologischen Wahrnehmungspsychologie« bekannten Analysen, wonach der Betrachter nicht nur mit seinen Augen, sondern mit seinem Körper, mit seinem gesamten Organismus einen »Wahrnehmungsapparat« darstellt, der sich in Bewegung befindet.(Gibson, J.J. Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München-Wien-Baltimore, 1982) Demnach stellt ein Bild in einem Raum nur einen Aspekt inmitten einer Anordnung von vielen unterschiedlich »ineinander verschachtelten« Angeboten (»affordances«) dar, das mittels eines entsprechend vielschichtigen Systems erfaßt, wahrgenommen, eingeordnet und beurteilt wird.

David
David, 1987, Ausschnitt

Nietzsche hat sich ähnlich über die Musikwirkung und -erfahrung Richard Wagners geäußert und dabei den Effekt der »wechselnden psychischen und physiologischen Einstellungen« betont: »Der Ehrgeiz des großen Stils - und dabei Nicht-Verzicht-leisten-wollen auf das, was er besser machte, auf das Kleine, das Kleinste; dieses Überladen mit Details; diese Ciseleur-Arbeit in Augenblicken, wo Niemand für Kleines Augen haben dürfte; diese Unruhe des Auges, welches bald für Mosaik und bald für verwegen hingeworfene Wand-Fresken eingestellt werden soll. Ich habe die eigentümliche Qual, welche mir das Anhören Wagnerscher Musik erregt, darauf zurückgeführt, daß diese Musik einem Gemälde gleicht, welches mir nicht erlaubt, auf einem Platz zu bleiben ...daß beständig das Auge, um zu verstehen, sich anders einstellen muß: bald myopisch, damit ihm die raffinierteste Mosaik-Ciseleurarbeit nicht entgeht, bald für verwegene und brutale Fresken, welche sehr aus der Ferne gesehen werden wollen. Das Nicht-festhalten-können einer bestimmten Optik macht den Stil der Wagnerschen Musik aus: Stil hier im Sinne von Stil-Unfähigkeit gebraucht.« (Nietzsche, F. Nachgelassene Fragmente 1887-89. Kritische Studienausgabe Bd. 13. 2. Aufl. München 1988, 1 34f.) 1. Geht man zusätzlich noch von einer allgemein »evolutiv-symbolischen Wahrnehmungsebene« aus, auf der die Bezüge des Einzelnen zum Übergreifenden erkannt, wahrgenommen und zugeordnet werden, so ist im Hinblick auf die bildende Kunst das kunsthistorische und kunstkritische Wahrnehmen angesprochen. (Schurian, W. Psychologie Ästhetischer Wahrnehmungen. Opladen, 1986) Bei einer Entfernung etwa von mehr als zehn Metern werden auch die Bilder von Rudolf Hausner dergestalt wahrgenommen, wenn und wo sie sich etwa in einem Museum mit anderen Bildern befinden, entweder als von ihm oder von anderen Künstlern erkannt und als vergleichbar zu diesen gesehen. Es werden Bezüge hergestellt, es wird die Symbolik, die Hausner anwendet, entziffert, es werden Erinnerungen an Vorangesehenes herbeigeholt. Es werden die allgemein ideologischen Bezüge dienstbar gemacht, um ein bestimmtes Bild in den Rahmen eines Ganzen zu sehen und um es entsprechend einzuordnen.

Adam, wach auf, es ist schon spät!
Adam, wach auf, es ist schon spät! 1974

Wenn Hausners Adam-Bilder als eine Ikonographie dieses Jahrhunderts angenommen werden, so mag es auf dieser Ebene auch dazu kommen, daß der Ikonencharakter erkannt wird. Beispielsweise: daß die starre Frontalansicht, von oben beleuchtet, gesehen und in Bezug gesetzt wird zu osteuropäischen, religiösen Ikonenbildern oder zu asiatischen Ansichten von Tier-Menschgestalten oder von Architekturversatzstücken, die ebenfalls diesen direkten ikonischen Anspruchscharakter aufweisen. So können Verbindungen auch zur süd- und mittelamerikanischen Kunst, zu den Dämonenköpfen der Azteken und Mayas oder zu den Gorgonendarstellungen der Mittelmeerkunst aus der vorchristlichen Zeit entschlüsselt werden. Soweit zur Distanz aus größtmöglicher Entfernung zu einem Hausnerbild.

Alter Billardspieler
Alter Billardspieler, 1970-76, 1983-84

2. Nähert sich nun der Betrachter auf eine Entfernung von etwa 6 Meter diesem Bild, dann entsteht auf der »selbstreflexiven Ebene« eine Bedeutungsanalyse. So wird der spezielle Charakter eines Bildes erkannt, es werden historische, gesellschaftliche Eingrenzungen und Nahbestimmungen vorgenommen. Es kommt zu einem »Eindruck« eines spezifischen Bildes, das sich nun unterscheidet von den umgebenden Bildern und Räumlichkeiten. Das einzelne Bild rückt in den Vordergrund, während der Hintergrund, das Seitliche, Oben und Unten, nicht mehr scharf wahrgenommen wird. Je genauer man ein Bild fixiert das heißt, je näher man an es herantritt - um so mehr verschwinden die umgebenden Varianten, tauchen ein in den Hintergrund, werden unscharf.

Dies führt dazu, daß es bei einer solchen Annäherung zu einer Identifikation mit dem Bild kommen kann. Man erkennt die Totale, man erkennt die Bedeutung, die der Maler in das spezifische Bild eingefügt hat; man befindet sich im Spannungsfeld eines bestimmenden Eindruckes, der durch den intendierten Ausdruck des Künstlers korrespondierend wachgerufen wird. Außerdem führt es zu einer Bewertung, zu einem Urteil, das sich aus der Tätigkeit der Selbstreflexion ableitet. Man ordnet jetzt ein spezielles Bild in den allgemeinen Kanon der bisher gesehenen Bilder ein. Handelt es sich um die Beschäftigung mit Hausner, so wird man, wenn man einen speziellen Adam-Kopf betrachtet, zu einer Einordnung in die anderen Bilder dieses Malers gelangen.

David
David, 1987, Ausschnitt

3. Eine weitere Annäherung bis etwa vier Meter vor das Bild aktiviert die Ebene der »reflexiven Wahrnehmung«. Mit ihr erkennt man Einzelheiten, Farbabstufungen, Schattierungen, und man gewinnt einen unverwechselbaren, unmittelbaren Eindruck, der zu einem so oder so gearteten Vorurteil gerinnt. Vorurteil bezeichnet eine direkte, unmittelbare Urteilsbildung, die nicht so sehr auf den kognitiven Denkoperationen aufbaut, als vielmehr auf den unmittelbaren sinnlichen Reizen, die auf das Auge und den ganzen Organismus treffen.

Diese Ebene formiert auch die Sympathien oder Antipathien, es kommt hier zu einer Akzeptanz. Hier werden gefühlsmäßige Alternativen angestellt, die nicht dem tatsächlichen Wahrheitsgehalt entsprechen müssen, die aber für die psychische Tätigkeit insofern nützlich und notwendig sind, als mit ihnen Grobentscheidungen vorgenommen werden können. Wenn man ein Bild sympathisch oder unsympathisch findet, dann entspricht das nicht dem objektiven Tatbestand, der diesem Bild tatsächlich zukommt. Sondern dann ist dieses Vorurteil für den Betrachter deshalb notwendig, da er psychische Zuweisungen erhält, auf die dann weitere detaillierte Beschäftigungen aufbauen können. Ein Bild, das unsympathisch wirkt, lädt weniger zu einer weiteren Beschäftigung ein, als ein Bild, das unmittelbar sympathisch ankommt.

4. Bewegt sich nun der Betrachter noch näher an ein Bild heran, auf eine Entfernung von etwa ein bis zwei Meter, so zeigen sich einige Paradoxe. Es wird von der traditionellen Kunstwissenschaft sicherlich als obskur angesehen, falls ein Betrachter dermaßen nah an ein Bild herangeht. Geschieht dies z.B. in einem Museum, so handelt es sich vielleicht um Fachleute, um Maler oder Kunstwissenschaftler, die etwa die Struktur der Malweise näher unter Augenschein nehmen wollen. Ein sogenannter normaler Betrachter unterschreitet damit allerdings schon eine sogenannte kritische Distanz. Das aber ist gerade bei Hausner nicht der Fall. Denn Hausners Bilder, und das ist das Besondere an seiner Malerei, sollten nicht nur wie andere Bilder aus der üblichen weiteren Entfernung betrachtet werden, sondern sie nötigen geradezu dazu, so nah wie möglich an sie heranzugehen. Denn nur aus einer solchen Entfernung läßt sich die Besonderheit dieses Malers unter die Lupe nehmen. Nicht etwa daß dies der entscheidenste Aspekt an seinen Bildern wäre, aber es ist ein ganz bestimmter, der seine Malerei auszeichnet. Erst dann eröffnen sich aufschlußreiche Einzelheiten über die Wahrnehmungsebenen der sogenannten »dissipativen, zellulären und organellen Ebenen der Wahrnehmungen«. (Schurian, W. Psychologie Ästhetischer Wahrnehmungen. Opladen, 1986) Mit ihrer Hilfe kann die Malerei als eine Technik, die Malerei als ein Handwerk, erkannt werden. Hier kann das Können studiert werden, mit dem der Maler punktuell Farben aneinander- und übereinandersetzt.

David
David, 1987, Ausschnitt

5. Mit diesen Ebenen kann beispielweise aus einer schließlichen Annäherung von zehn bis fünfzig Zentimetern eine Technik erkannt werden, die ganz eigene Dimensionen eröffnet. Beispielweise, daß man erkennt, wie es bei Hausner nicht nur um eine technisch feine Lasurmalerei geht, sondern um eine Variante der impressionistischen Malerei, nämlich des Pointilismus. Hausner komponiert Farben so neben- und übereinander, daß sie aus verschiedenen Entfernungen zu unterschiedlichen Ganzheiten verschmelzen. Aus unmittelbarer Nähe erschließen sich Strukturen, die dem Auge plötzlich als abstrakte, materielle und materiale Einheiten gegenübertreten. Und diese unmittelbare Visualisation, die sich einer physikalischen Spektralanalyse der Netzhaut erschließt und nicht so sehr dem Verstand wie bei den anderen Entfernungen, läßt sich als ein unmittelbares Gegenübertreten des Auges mit der Technik und damit auch mit dem Auge des Malers erleben. So gesehen ist Hausners Malerei in der Tat singulär, als man bei ihm keine kritische Distanz unterschreiten kann. Sondern man vergäbe sich eine Chance, träte man nicht auch einmal sehr nahe an seine Bilder heran, um dadurch die unmittelbaren Eindrücke und Erlebnisse seiner Malerei psycho-physisch zu erfahren.


Zeitgenossenschaft#

Junger Matrose
Junger Matrose, 1988

Ein Merkmal von gelungener Kunst ist es, daß sie zeitgenössisch ist. Dann bedient sie sich einer Technik, die aus ihrer Zeit heraus jeweils neu verfeinert eingesetzt wird; sie bedient sich bestimmter Wahrnehmungsweisen, die kulturell und psychisch sich in der Zeit ausbilden, und sie gründet sich inhaltlich auf die Gegenständlichkeiten und Objektfindungen, auf denen solche Wahrnehmungsweisen ausgerichtet sind, daß heißt, auf das Gleichzeitige, auf das Neben- und Miteinander von Menschen, Dingen und Situationen. Was Gertrude Stein sinngemäß zu Picasso anmerkt, trifft auf alle große Kunst zu, nicht nur in diesem Jahrhundert, sondern überhaupt: »Ich erkannte, daß ein schöpferischer Mensch zeitgenössisch ist; er versteht, was zeitgenössisch ist, wenn die Zeitgenossen es noch nicht wissen.« Damit wird Unterschiedliches angesprochen: zum einen, wie die Malerei mittels der ihr innewohnenden Selbstorganisation die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern Wirklichkeit erfindet. Die Malerei schafft eigene Ansichten, über die dann die Welt anders betrachtet werden kann. Das Zeitgenössische besteht auch darin, daß in der realistisch oder figurativen Malerei das Abgebildete sich jeweils genau auf diejenige Zeit gründet, in der es abgebildet wird; ein Porträt von Picasso hat zum Gegenstand immer einen real wahrgenommenen Menschen aus seiner Zeit. In der malerischen Sichtweise, ob realistisch oder nicht, wird ein Zeitgenosse eines Malers als derjenige gesehen, der die Wahrnehmungsweisen der Realität mit dem Maler teilt: eine unmittelbare, physische, psychische, geologische und historische Gleichzeitigkeit des Malers mit seinem Modell.

Junger Matrose
Junger Matrose, 1988, Ausschnitt

Für die Betrachtung solcher Bildnisse kann dann die jeweilige Zeit aus der zeitgenössischen Darstellung wieder entziffert werden. Bildet dagegen ein Maler ahistorisch irgend ein Sujet ab, so kann dieser Prozeß nicht nachvollzogen werden, dann ergibt sich ein Riß zwischen dem Abgebildeten und der Zeit des Malers, in der dieser gearbeitet hat. Daraus leitet sich dann Zeitlosigkeit ab. Nur diejenige Kunst, die als zeitgenössisch entsteht, kann die Zeit überdauern, indem sie anderen Zeiten von ihrer Art und Weise Mitteilung machen kann. Ist dieser Bezug der realen Art und Weise nicht historisch, zeitlich und sozial gegeben, kann ein späterer Betrachter dieses Raster des Bezuges nicht erkennen. In diesem Fall wird das Dargestellte beliebig, da transponierbar in andere Zeiten, auf andere Gegebenheiten, andere Relationen.

Da das Leben im Moment gelebt und erst im nachhinein erkannt wird, obliegt es der Malerei, späteren Zeiten vom jeweiligen Leben zu künden. Das bezieht sich auf die Zeitgenossenschaft von Kunst. Hausners Adam ist nicht ein Typ irgendeiner Zeit, sondern er erhält seine Verankerung und Tiefendimension dadurch, daß er in einer realen Zeit, an einem realen Ort, in einer unvergleichbar gearteten Geschichte erschaut und ermalt worden ist: Nämlich in Europa in der Zeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts, nicht früher und nicht später und an keinem anderen Ort.

Junger Matrose
Junger Matrose, 1988, Ausschnitt

Adam objektiv
Adam objektiv, 1976, Ausschnitt

Adam gut getroffen
Adam gut getroffen, 1959, Ausschnitt

Aus dieser realen Bezogenheit - die nichts mit der sogenannten realistischen Malweise Hausners zu tun hat, sondern aus einer Betrachtungsweise und aus einem Schaffen eines Zeitgenossen entsteht -- ergibt sich die Trans-ponierbarkeit für spätere Zeiten, so daß diese sich einmal ein verläßliches, das heißt ein nichtbeliebiges Bild dieses Jahrhunderts machen können. So wie der heutige Betrachter es anstellt, läßt er die Porträts eines Rembrandt vor seinen Augen Revue passieren, und sich damit einen verläßlichen Eindruck der Niederlande des 17. Jahrhunderts machen kann, in dem Rembrandt seine Mitbürger erkannt, erschaut und ermalt hat. Oder ein Betrachter kann sich ein höchst verläßliches Bild der griechischen Zeit und Lebensweise machen, wenn er die Bildnisse eines Praxiteles und anderer betrachtet, die etwa die Körper von Athleten, die in jener Zeit gelebt haben, abgebildet darstellen. (Holländer, H. Rudolf Hausner. Werkmonographie. Offenbach, 1985, S. 74)

Adam Jongleur
Adam Jongleur, 1989

Wenn ein Betrachter in etwa zweihundert Jahren einmal Hausners Adam anschauen wird, werden ihm Dinge auffallen, die aus dieser Zeit sich herauskristallisieren, ausfällen und in jene Zeit hineinreichen. Dazu gehören unter anderem die erwähnten Eigenschaften des reglosen, abwartenden, anarchen, individualistischen und normalen Beobachters seiner Zeit, des Erinnernden, der sich der Ereignisse seiner Zeit gewahr wird. Aber es gehören auch noch andere Eigenschaften hinzu, die sich summieren, und die von einer heutigen Sichtweise noch gar nicht erkennbar sind. In jedem Fall dient Adam als eine Projektionsfläche unverwechselbarer Art, auf der spätere Betrachtungsweisen ihre eigenen Eigenschaften einbringen können. Weil Adam auch methodisch der Malerei seiner Zeit abgeschaut worden und in ihr ermalt worden ist, kann er als solche Imaginationsfläche herhalten. All das ist dadurch gegeben, weil Hausners Adam einen Zeitgenossen eines Malers im ausgehenden 20. Jahrhundert verkörpert und darstellt. Dergestalt reicht er in die Zukunft.

Auf Ithaka#

Hausners Junger Matrose (1988) ist ein Beleg dafür, wie sich der Künstler »zu den Ursprüngen zurückmalt«. Diese Behauptung zielt, wie erwähnt, auf Hausners Überzeugung, daß er mit Hilfe seiner Malerei sich nicht nur gegenwärtige und zukünftige Orte und Dimensionen erobert, sondern auch in seine eigene Vergangenheit archäologisch eindringt. Daß Hausner sich aber noch 1988 mit einer besonderen Zeit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, nämlich den 40er und 50er Jahren, ist erstaunlich. Sein Junger Matrose schließt nämlich an sein Hauptwerk seiner Frühperiode an: die Arche des Odysseus. Dieses Bild besticht durch seine Verankerung in der europäischen Geschichte. Es ist nicht nur eine Auseinandersetzung und eine Überwindung einer psycho-analytisch beeinflußten Zeit Hausners, sondern es beleuchtet geschichtliche Dimensionen Europas. An diesem Punkt beginnt die Geschichte und die Entwicklung Hausners sich mit der europäischen Vergangenheit und Gegenwart zu verschmelzen.

Adam Jongleur
Adam Jongleur, 1989, Ausschnitt

Die zentrale Figur der Arche des Odysseus ist ein Prototyp Adams. Es ist ein verfremdetes Selbstportrait Hausners und gleichzeitig ein Kippbild insofern, als daraus die physiognomi-sche Substanz Adams ablesbar ist. Diese Figur hat eine bewegte Vergangenheit. Hausner hat an diesem Bild nicht nur lange gearbeitet und viele Stellen verändert, sondern die Figur des Odysseus hat auch mancherlei Wandlungen durchgemacht. (Holländer, H. Rudolf Hausner. Werkmonographie. Offenbach, 1985, S. 24) Odysseus steht vor der Kulisse Wiens, im Hintergrund ist die Karlskirche zu erkennen. Gleichzeitig blickt man auf ein Gebäude am Meer, das zugleich vieldimensio-nal das ganze Bild umfaßt; im Hintergrund sieht man Schiffe vorüberfahren oder sogar im Begriff unterzugehen. Läßt man einmal die psychologisch inspirierten rechtsseitigen Handlungen beiseite, in denen sich Hausner mit seinen persönlichen Gegebenheiten wie Familie, Frauen, Kinder konfrontiert, so bleibt Odysseus die beherrschende Figur.

Odysseus, bedeckt mit einer Matrosenmütze, auf der »Ithaka« zu lesen ist, hält in seiner linken Hand einen Würfel, auf dem die Bildnisse seiner Eltern und sein Kinderbildnis zu erkennen sind. Adam, der noch nicht seine Garnspule gefunden hat, jongliert also mit den Bildnissen seiner unmittelbaren sozialen Umgebung. Dem dramatischen Geschehen hinter ihm den Rücken kehrend blickt er den Betrachter in der typischen Adam-Pose frontal ruhigen Blicks an. Seine blauäugige Zuversicht verleiht diesem turbulenten Bild einen ruhenden Pol. Es ist ein Moment, in dem man meint, dieser Odysseus habe sich von dem dramatischen Geschehen abgewendet oder ist im Begriff, sich diesem wieder zuzuwenden. Auf alle Fälle ist er Teil einer aktiven Auseinandersetzung. Ausgebreitet befinden sich rechts hinter ihm, vom Betrachter aus gesehen, die oftmals dargestellten Objekte wie Kugel, Kubus, Rhombus, Zylinder, Ellipsoid in verschiedener Farbigkeit. Damit scheint dieser Odysseus aus der fernsten Vergangenheit griechischer Mythologie unvermittelt in die Gegenwart und sogar in die Zukunft Europas einzutauchen. Seine Gegenwart umspannt eine mehrdimensionale Zeit vom mythologischen Ursprung bis in eine surreale Zukunft.

Adam Aufsteiger
Adam Aufsteiger, 1988

Das Interessante für die Betrachtung Adams ist an dieser Arche des Odysseus, daß man sich der Verwandlung dieses Odysseus gewahr werden kann, wie einige Zustandsbil-der dies dokumentieren. (Holländer, H. Rudolf Hausner. Werkmonographie. Offenbach, 1985, S. 24) War diese Figur ursprünglich in einer typisch phantastisch-realistischen Verzerrung angelegt, als ein Wesen aus einer anderen Zeit, so ist im Endzustand das Portrait des Odysseus bereits in einem durchaus zeitgenössichen Duktus eines Selbst-portraits des jungen Hausner angelegt. An diese physiognomische Präsenz des Odysseus zu Beginn der 50er Jahre schließt der Junge Matrose an. Physiognomisch ist er ein noch jüngerer Odysseus, stellt einen etwa sechzehn-bis achtzehnjährigen Jungen dar und dürfte ein Selbstportrait des jungen Hausner sein. Er trägt ebenfalls eine Matrosenmütze, diesmal aber nicht in weiß wie Odysseus, sondern in dunkelblau. Diese Farbe schmiegt sich übergangslos dem dunkelgrün-bläulich-schwarzen Himmel an. Es scheint sich dabei um jenen Moment zu handeln, wo der junge Odysseus sich noch auf Ithaka, der Heimat des mythologischen Odysseus, aufhält. Er scheint sich auf einer Insel zu befinden, da der Himmel, in einer sehr expressiven Malerei gehalten, so etwas wie ein spiegelverkehrtes, komplementäres, aufgebraustes Meer zeigt. Es ist eine Stimmung festgehalten wie vor oder nach einem großen Sturm, was die grünlichen, bläulichen und gelblichen Farben unterstreichen. Odysseus als Junge scheint noch von der Ferne zu träumen. Vielleicht plant er in seiner jugendlichen Phantasie die Reisen, die jeder Junge an jedem Ort und zu jeder Zeit irgendwann einmal sich ersehnt hat. Das Gesicht dieses jungen Matrosen ist in einer sehr expressionistisch-impressionistisch-pointilistischen Weise gemalt. Das verleiht diesem Bild seine eigentümliche, mitreißende Ausstrahlung. Es ist ein Moment zu betrachten, da absolute Ruhe herrscht. Auch bestaunt man das In-sich-Verhaftetsein, die jugendliche Unbekümmertheit, das Träumen, auch Tagträumen, aber auch schon die gespannte Lebenserwartung im Blick. Die Spannung kommt aus der aufgewühlten, durchpeitschten Farbpalette, die eine dynamische Stimmung vorbereitet.

Adam Aufsteiger
Adam Aufsteiger, 1988, Ausschnitt

Es verweist gleichzeitig, da es sich ja um ein Selbstportrait des alten Rudolf Hausner von seinem sehr jugendlichen Eben- und Erinnerungsbild handelt, auf den bevorstehenden Aufbruch des jungen Odysseus als junger Mann sowie des jungen Rudolf Hausner vor der Entscheidung, Maler zu werden. Es mag sich um den Zeitpunkt handeln, als sich Hausner überlegt, sich auf die unabgesicherte Reise in die Kunst zu begeben. Wie Odysseus in jenem Alter auch noch nicht ahnen konnte, welche Gefahren er dereinst mit seinen Reisen heraufbeschwören würde, so kann dieser »junge Maler« auch noch nichts davon ahnen, welche Gefahren und welche Höhepunkte sich auf seinen Reisen ereignen werden.

Adam Aufsteiger
Adam Aufsteiger, 1988, Ausschnitt

Abgesehen von solchen Interpretationen besticht dieses Bild aber vor allem durch eine ungewöhnliche Schlichtheit und Direktheit des malerischen Ausdrucks, der anrührt. Es vermittelt mit wenigen Hauptfarben, aber durch eine unendlich fein abgestufte Palette dazwischen, einen bestechenden Moment eines Einblicks in eine faszinierende Persönlichkeit. Dieser Junge Matrose enthält unter seiner Oberfläche ein ganzes komplexes Wesen, das sich allein durch diese unvergleichliche Malerei ausdrückt. Sein ruhiges, jugendlich forsches, angedeutetes Lächeln und sein gerader Blick, der durch einen leichten Schleier jugendlicher Träumerei umhängt ist, künden von einem Aufbruch in neue Dimensionen mit Ungewissem Ausgang. Es ist das packende Bildnis eines zeitgenössischen, jungen Menschen.

Hausner hat mit diesem Vor- und zugleich Nach-Adam-Bild eines jungen Menschen eine zusätzliche Ikone dieser Zeit geschaffen. Obwohl in mythologische Ferne und farblich schier unbegreifliche Räume gerückt, ist dieser Junge Matrose ein Typus eines jungen Menschen in den späten 80er Jahren, der aus den malerischen Räumen dieser grün-bläulichgelblichen Umgebung heraus seinen Blick richtet auf den Betrachter, der sich selbst in den Räumen anderer und komplexerer Dimensionen bewegt. So entsteht eine Zwiesprache mit einem Zeitgenossen, der sich unverwechselbar in der ihn umgebenden Zeit einrichtet, und über die Imagination und die jugendlich genuine Verträumtheit bis in die mythologische Zeit reicht.



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© Walter Schurian, Hausner- Neue Bilder - 1982-1994, Edition Volker Huber