Erstes Kapitel: Leonardo#
Ausgreifen#
Im Kontext der Gesamtentwicklung der Hausnerschen Malerei, in dem Zeitraum von 1935 bis 1994, stellt der »Leonardo«-Zyklus eine Ausnahme dar. Und dies in mehrfacher Hinsicht. So ist er zum einen angelegt als eine Hommage, als eine Ehrung, ein Tribut an einen anderen Maler, in diesem Fall an eines der großen Vorbilder von Hausner, Leonardo da Vinci. Diese Arten von Hommage hat es in der Kunstgeschichte zu vielen Zeiten gegeben. Damit wollen Künstler ein Bekenntnis zu einem ihrer Vorbilder abgeben; zum anderen nehmen sie die Vorlagen eines solchen zum Anlaß für eigene Variationen und Paraphrasen und geben somit Kenntnis von ihrem Können. Ein anderer Grund, warum dieser Zyklus eine Ausnahmestellung im Werk Hausners einnimmt, liegt darin, daß nicht die Figur des Adam im Zentrum dieser Malerei steht, sondern anderes und andere. So, beispielsweise, die Figur der Eva, der Anne, der Anima. Dieses weibliche Prinzip nimmt einen breiten Raum in diesen einzelnen Bildern ein. Es bildet das Fundament, den Archetypus, das Terrain des Unbewußten, und befindet sich darüber in einem Zusammenhang mit dem saturnischen Element. Auch dies deutet auf dessen zentrale Stellung in diesem Zyklus.
Ein anderer auffallender und neuartiger Gegenstand des Hausnerschen Malkosmos ist die Abendmahlsgesellschaft Leonardos, die in immer neuen Variationen, in Verdoppelung und Verdreifachung benützt wird, um substantielle Abweichungen und Rekonstruktionen einzubringen. Während der Arbeit nämlich erkennt er, daß dieses Motiv wie ein Schwamm seine eigene Lebensgeschichte aufsaugt, zur Entdeckung vieler vergessener Szenen aus seiner Vita führt, um schließlich als ein Bekenntnisbild seines Individuationsprozesses abgeschlossen zu werden. Er weicht von einer üblichen Hommage ab, gleichzeitig vertieft er diese. Auch dabei gibt Adam die tragende Rolle: als Mitspieler, als Neugeborenes auf dem Abendmahlstisch, als Schüler, Boxer, als Billardspieler. Alle Rollen sind miteinander identisch: in sich ausdifferenziert, erscheinungsmäßig gleich. Ein weiterer Grund für die Ausnahmestellung dieses Bildes ist darin angelegt, daß das Bildgeschehen in eine eigenartige Architektur eingebettet ist, die ihrerseits in eine ergänzende und erweiternde Beziehung zur Landschaft, auch zur Stadtlandschaft Wiens tritt. Dergestalt stellt es eine maßgebliche und ungewöhnliche Erweiterung des bisherigen Spektrums der Hausnerschen Malerei dar.
Insgesamt ist dieser Zyklus ein Beispiel für das Ausgreifen von Inhalt, Stil, Format und Farbe der Hausnerschen Malerei, etwa zwischen 1970 und 1980. Dies ist zunächst einmal zu sehen vor dem Hintergrund des zeitlichen Spektrums der Ausdifferenzierung und der Erweiterung von 1938 bis etwa 1970, woran sich dann, etwa ab 1980, der Trend zur Fokussierung und zur Zentrierung auf die Gestalt Adam ergibt. Auf diesem Zenit, an dem Punkt des weitmöglichen Ausgreifens, an der Polarität, sowie an der Extremität des Spielraums der Möglichkeiten, ist der »Lenardo«-Zyklus angesiedelt.
Dieser Ausgriff läßt sich nachweisen einmal im erwähnten Inhalt und daran, daß es sich hierbei um eine direkte Bezugnahme auf einen anderen Maler handelt. Zum anderen, daß es dabei um einen veränderten stilistischen Ansatz geht. Es ist in erster Linie die Malerei, die in ihrer Farbnuancierung und ihrer stupenden Raffinesse zu einem ausdifferenzierten Spektrum an Leuchtkraft gelangt. Schließlich liegt es noch im Format dieser Bilder begründet - bei dem sich Hausner, nach einigen wenigen Versuchen z.B. Aufruf zur Verteidigung der persönlichen Freiheit, zu einer für seine Verhältnisse ungewohnten Erweiterung, einem »Blow up«, entschlossen hat - daß neue Maßstäbe vorgegeben werden.
Neben den Aspekten der Ausdifferenzierung und der Erweiterung verkörpert der »Leonardo«-Zyklus eine komprimierte Vorstellung von dem, was Hausner an Möglichkeiten zum Ausdruck bringen kann und bringen will. In diesen Bildern sind Anteile, Assoziationen und Inhalte von all dem enthalten, womit er sich zuvor im einzelnen beschäftigt hat. Hausner mischt in diesem Zyklus verschiedene einzelne Teile miteinander und fügt sie neu zusammen, um diese sodann in einem anderen Bildzusammenhang zu einem neuen Ausdruck zu führen. Obwohl Adam nicht als alleiniger Spieler, sondern als Mitspieler in einem größeren Bezugssystem in Erscheinung tritt, sind viele der archäologischen Fundstücke Hausners präsent, wie die Garnspule, die Saturnringe, die zentrale Perspektive mit der deutlich ausgerichteten Linie auf die »kleine Figur des Kandidaten« in der Abendmahlsgesellschaft, der »gestupfte« Himmel, die obsessiv realistisch gemalten Backsteinmauern, der feinfühlig gemalte Körper der Anima und anderes mehr.
Es ist aber nun so, daß die einzelnen Teile nicht nur additiv in diese Bilder eingebracht sind, sondern, daß sich aus diesen einzelnen Anteilen insgesamt eine neue Gestalt ergibt.
Die altbekannte und doch neuartige Komposition dieses Abendmahls ist es, die sich zu einer gesonderten Ausdruckskraft der Hausnerschen Malerei verdichtet. Hier handelt es sich also nicht nur um eine Steigerung, sondern um ein ultimatives Ausgreifen in alle malbaren Möglichkeiten; insofern bilden diese Bilder Anlaß genug für unterschiedliche Betrachtungsweisen. Es ist allerdings nicht so, daß diese ohne innere Widersprüchlichkeit wären, sondern, ganz im Gegenteil, Widersprüchlichkeiten stilistischer und inhaltlicher Art drängen sich dem Betrachter geradezu und herausfordernd auf. Es geht um einen Bildzyklus, der im Sinne des Wortes provokativ wirkt. Er zwingt aufgrund seiner herausgehobenen Stellung in der Entwicklung der Hausnerschen Malerei zu einer gesonderten Einschätzung und Stellungnahme des Betrachters. Durch das Ausgreifen und das Experimentieren mit dem Größtmöglichen wird ein neuer Rahmen abgesteckt. Zunächst wird der Bezug durch die historische Entwicklung der Hausnerschen Malerei erweitert, zum anderen wird die »Message« an den Betrachter verstärkt. Obwohl er sich vordergründig in dem traditionellen Bezugssystem einer Zitierung bewegt, bringt er impressionistische, surrealistische und avantgardistische Malerei in Anwendung. Die tonige Malerei Leonardos wandelt er in eine spektralfarbige um. Hausner beutet die Vorlage seines Vorbilds aus. Schließlich ist dieser »Leonardo«-Zyklus noch als eine Selbstdefinition zu verstehen. Danach geht es über in den eigentlichen Höhepunkt der Hausnerschen Malerei: die Zentrierung und Vertiefung der Gestalt des Adam.
Bedeutungen, Deutungen#
Aufschlußreich ist die zeitgeschichtliche, werkimmanente und ikonologische Einordnung des »Leonardo«-Zyklus in die Malerei von Hausner, sowie in die Kunstszene. Hierzu hat Hans Holländer in seiner vorbildlichen Monographie ausführlich bereits Stellung genommen, daß dem wenig hinzuzufügen ist. Diese Monographie, die den ersten Teil des Hausnerschen Werkverzeichnisses bildet, wird abgeschlossen durch die »Leonardo«-Bildnisse. Insofern erscheint es sinnvoll zu sein, daß die Fortsetzung des Werkverzeichnisses dort beginnt und kursorisch auf diesen Zyklus Bezug nimmt und daran anschließt. Dies erzwingt sich auch dadurch, daß sich in der Zwischenzeit noch zwei weitere Bilder diesem Zyklus hinzugesellt haben.
Holländer ordnet das erste der »Leonardo« Bilder, die »Hommage«, zunächst einmal der Vita Hausners zu: »Die Hommage ä Leonardo (1977-1981) ist charakteristisch. Sie gehört zu den Arbeiten der letzten Jahre, in denen Hausners subtile Technik sich auch in großem Maßstab im Freskenformat bewährt. Die 'Hommage' gilt einer nicht bezweifelten, ja bewunderten Autorität, Grund genug, sie als Herausforderung zu betrachten und eine Antwort zu formulieren. Das geschieht mit einiger Verwegenheit, denn Gegenstand des Zitats ist das 'Abendmahl'.«
»Aber der Tisch wird zum Billardtisch und die Abendmahlsversammlung hat sich, nur geringfügig verändert, in ein Prüfungskomitee, den Inbegriff gefürchteter Autorität, verwandelt. Vor den heiligen Männern hat der Junge im Matrosenanzug eine schwierige Aufgabe zu lösen. Alle Gebärden beziehen sich nun auf ihn, der im Augenblick der Entscheidung zum Billardstoß ansetzt. Unten aber entwickelt sich, mächtig aus dunklen Gründen aufsteigend, ein weiblicher Torso, eine der vielen Gestalten der Anima. Die Leonardo-Variationen (...) gehören zu den bedeutenden Überraschungen unter den an Überraschungen ziemlich reichhaltigen neueren Bildern. Natürlich hat sich dies alles seit längerer Zeit vorbereitet, wie immer bei Hausner. So war die Billardpartie noch nicht zu Ende gespielt, und weiterhin wird der Junge gespannt und zielsicher zum Stoß ansetzen. Daß jetzt dieses Ereignis ausgerechnet vor dem Kollegium am Abendmahlstisch stattfindet, ist nachträglich natürlich ganz einleuchtend, denn vor diesem wirkungsmächtigsten Bild der Renaissance muß jeder Maler eine Entscheidung herbeiführen. Auch kann der fragmentarische Zustand dazu beigetragen haben, mit der Ergänzung zugleich eine Veränderung der ganzen Situation zu erreichen. Dazu fordern Fragmente ja auf. Dieses Fragment ist überdies ein Zitat. Eingesetzt in einen gänzlich anderen Kontext, verliert es seine ursprüngliche Bedeutung und gewinnt eine andere. Zugleich ist diese Art des Zitierens eine Art von 'Herbeizitieren', der Geisterbeschwörung.« »Die historische Autorität Leonardo wird zitiert als Instanz, vor der, nun aber in seinem eigenen Metier, einer eine Probe zu bestehen hat. Dabei verwandelt sich der Tisch, gemäß den Fähigkeiten und Interessen des Jungen, in einen Billardtisch. Soweit ist also alles ganz schlüssig und in Ordnung und das müßte genügen. Es gibt indessen noch einen weiteren Aspekt, der zeigt, daß Leonardo nicht nur herbeizitiert und sein Werk in verändertem Kontext aus seinem ursprünglichen Bedeutungsspektrum entfernt wurde. Anders als sonst bei derartigen Prozeduren blieb die Pointe erhalten. Der historische Augenblick des Abendmahls ist bekannt, aber zuvor wurde er so nicht dargestellt. Leonardos Abendmahl ist das Bild eines Augenblicks der Entscheidung. Die Worte, die gesprochen wurden, verändern die Zeitmaße, die Geschichte und sie bringen die ganze Umgebung in Bewegung. Der Augenblickscharakter ist bei Hausner uneingeschränkt erhalten geblieben als wesentlicher Kern des Bildes. Hier ist ein ganz individueller Augenblick, der die Gezeiten der Geschichte nicht in ihrem Rhythmus verändert, aber große Bedeutung hat für den, der vor der Geschichte sein Spiel spielt.« (Holländer, H., Rudolf Hausner. Werkmonographie. Offenbach, 1985. S. 214ff.)
Danach geht Hans Holländer auf das zweite Bild des Zyklus ein: Adam, der ungeliebte Sohn - eine Allégorie réelle (1979 - 1984). Er entziffert zunächst dessen Inhalt und bezieht diesen auf kulturgeschichtliche Assoziationen und Querverbindungen:
»Die zweite Fassung dieses Themas bringt bedeutende Veränderungen. Das Hochformat wurde in ein Breitformat verwandelt. Das Gebäude schiebt sich nun tiefer in den Raum mit zwei Seitenarkaden statt nur einer. Der Segmentbogen wurde beibehalten, aber jetzt kommt hinter dem Ziegelmauerwerk ein modernes Baugerüst mit Brettern und Stahlrohrgestängen zum Vorschein. Dieser unsichere Grund ist der Ort des Jungen, des Billardtisches und des Prüfungskomitees, das sich überdies verdoppelt hat, denn ein Stockwerk darüber erscheint dieselbe Versammlung nochmals, jetzt ohne das Billard. Der Tisch ist fast wieder der ursprüngliche, aber das Gedeck, Brot, Früchte, Getränke, das alles hat sich in Steine verwandelt.«
»Zu diesem Wunder der Verwandlung, das wiederum jedem Blick und jeder Gebärde eine neue und hinreichende Begründung lieferte, kam nach längerer Weiterarbeit an dem komplizierten Gemälde ein weiteres Erstaunen auslösendes Ereignis, das nun im Ganzen ein neues Zentrum bildet. Zwischen den Steinen, unmittelbar vor Jesus und seinen gebreiteten Händen liegt nun ein Kind, ein Säugling, kein 'schönes Kind' wie bei Runge oder in der Tradition des auserwählten Kindes, sondern ein noch gänzlich unentfaltetes Neugeborenes. An dieser Stelle ist es offensichtlich nicht 'zur Sache gehörig'. Es mischt sich ein oder es wurde eingemischt. Jedenfalls ist es ein ungebetener Gast in dieser Versammlung der Steine, und eine leise Veränderung im Blick läßt erkennen, daß Jesus jetzt seine überlegene Ruhe wie seine Besonnenheit aufgibt. Ihm selbst kommt das Kind überraschend, sein Blick wird starr, etwas erschrocken. Seiner eigenen Kindheitsgeschichte eingedenk, kann er schließlich diese unvermutete Erscheinung nur als bedeutende Störung betrachten.«
»Der Betrachter des Bildes wird die Pointierung in der vieldeutigen und ironischen Erfindung erkennen. Die Interpretation hat einen durch die Durchkreuzung von Tradition bezeichneten Spielraum. Im Bildganzen aber liegt das Kind genau am richtigen Platz, denn es ist eine frühere Gestalt des Billardspielers, die erste und früheste, so wie jener eine frühere Gestalt Adams ist. Hausner erwog daher, dem Bild einen die Folge der Verwandlungen Adams zusammenfassenden Titel zu geben: 'Adam, der ungeliebte Sohn' (...). Anima, die geheimnisvoll Untergründige, steht als Halbakt vor raumhaltigem Grunde, der nun weniger dunkel ist, obgleich seine Tiefe nicht gemindert wurde, und sie hat ein Gesicht. Anima, die zuvor schon Eva war und allmählich ihre neue Identität als Anne enthüllte, wird nun zum Porträt. Lächelnd und melancholisch zeigt Anne Hausner sich als neue Gestalt der Anima. Auf ihren Fingerspitzen balanciert sie die alte Garnspule. Darüber schwebt vor dem dunklen Grund ein Gestirn, Saturn, eine Verkleinerung dessen, was die neuen Aufnahmen der Voyager-Erkundungen zeigten.«
»Dieser Planet, dessen farbige Erscheinung und komplizierte Bauweise jetzt bekannter ist als früher, hat seine eigene und alte Tradition. In Dürers 'Melancholia I' ist er der dem melancholischen Temperament, der Mathematik und den Künsten zugehörige Planet, aber er ist niemals eindeutig gewesen. Zur Fruchtbarkeit gehört er auch, und alles, was den Kindern des Saturn früher zugeordnet war, bewegte sich außerhalb der Regeln und Normen der Gesellschaft. Das ist nun bekannt. Bei Hausner ist das nur ein winziger Hinweis, aber in großen Bildern können die kleinen Dinge das Ganze erhellen. So ist interessant, daß Hausner eine der neuesten Aufnahmen für den sozusagen telepathisch mit der Garnspule korrespondierenden Planeten gewählt hat. Auch bildet er eine fortgesetzte Variation der mit Ich bin Es beginnenden Folge planetarischer Gebilde.«
»Zuletzt verwandelte sich der unbestimmt grüne Hintergrund in eine Ansicht von Wien. Die Architektur setzt zur Linken mit der Rögergasse ein, in der das aus früheren Bildern bekannte Geburtshaus des Malers steht. Die Vogelperspektive der Häuserflucht bestätigt den hochgelegenen Ort der Ereignisse und Bewußtseinsdinge. Die ferne Stadtsilhouette kulminiert in der Votivkirche. Weit dahinter, klein, fern und vom Licht überstrahlt, erkennt man den Stephansdom. Der linken Öffnung in die Stadtraumperspektive korrespondiert zur Rechten der Ausblick auf den Donaukanal, der sich in gleißendem Licht, den Himmel reflektierend, in die Ferne erstreckt.« (Holländer, H. Rudolf Hausner. Werkmonographie. Offenbach, 1985. S. 219f.)
Erhellend verweist Hans Holländer schließlich noch auf die Technik und die Entstehungsgeschichte der »Leonardo«-Bilder, sowie auf den Ort, an dem sie gemalt werden und zu wirken beginnen:
»So wandern, immer noch dem Konzept der multiplen Perspektiven gemäß, die Fluchtpunkte der Orthogonalen auf einer Fluchtachse und diese Wanderung ist nicht konstruiert, sondern sie entspricht der Bedeutung der Bildorte. Die 'Perspectiva' des Vredeman de Vries wird so durchkreuzt und annulliert. Dabei hat sich ein eigentümlicher Effekt eingestellt. Das geschah, wie Hausner erklärt, zufällig, aber wie die Meßlatte erweist, mit großer Präzision. Die Fluchtlinien der unteren Kanten des Gemäuer schneiden sich genau in der Halsgrube der Christusfigur am Billardtisch, die Kanten dieses Tisches aber haben an der gleichen Stelle des oberen Christus ihre Entsprechung. Zufall, Einfall, Erkenntnis und Konstruktion spielen zusammen. Dieses Bild ist voller Erwägungen und Erkundungen. Die Bildtitel sind oft als erhellende Kombinationen und zusätzliche Verschlüsselungen bedeutungsgeladen gewesen. Sie sind mit den Bildern entstanden oder kamen in der Schlußphase durch plötzliche Zündung ans Licht. In diesem Falle steht der Titel noch nicht fest. Daß es sich um die zweite Abendmahlsvariation handelt, reicht zweifellos für den Titel nicht aus, muß aber benannt werden. Unerläßlich ist der Hinweis auf die Geschichte Adams, die hier auf dem neuesten Stande des malerischen Bewußtseins berichtet wird, also darf Adam nicht fehlen. Seine neueste Erscheinungsform ist die des 'ungeliebten Kindes' einer mehrfach vergegenwärtigten Tradition. Vor allem aber ist dieser Bewußtseinsort, dessen topographisch genauer Hintergrund die Lokalisierung in imaginären Raumkoordinaten bestätigt, ein Ort, an dem sich die Kräfte der Erinnerung und der Phantasie in bildnerischen Prozessen begegnen.
Also ist das Ganze auch ein Atelierbild. Die Gestalten und Erinnerungen, die Muse des Malers und der Blick auf die Weiträumigkeit der Welt als Landschaft sind gegenwärtig und manches mag noch hinzukommen. Jetzt kann, mit einer Anspielung auf ein anderes, berühmtes Atelierbild, der Titel so aussehen: Adam, der ungeliebte Sohn, une Allégorie réelle.«
»Hausner arbeitet meistens an mehreren Bildern gleichzeitig. Das ermöglicht ein Überspringen der Funken von einem zum anderen. Das 'work in progress' entwickelt sich immer zwischen einer gleichzeitig präsenten Reihe alternativer Entwürfe. Die Kontrastpositionen sind zweifellos stimulierend. Es ist einleuchtend, daß sie eine gewisse Ökonomie der Arbeitsweise begünstigen. Unvollendetes, Bilder, die unter der Sprengkraft einander ausschließender Ideen zusammenbrachen und zerstört wurden, gibt es seit langem nicht mehr. Die simultane Arbeit an einem halben Dutzend Bildern mit relativ langen Unterbrechungen hier und intensiver Arbeit dort, verbunden mit einer außerordentlichen Sicherheit im Metier, verhindert diejenigen Katastrophen, die den Neuanfang nach dem Kriege begleiteten. Der durchaus noch vorhandene Destruktionstrieb ist in einer subtilen Technik des Übermalens so eingefangen, daß er als produktive Kraft eine Beschleunigung der Erfindung bewirkt hat. Man sieht es den fertigen Bildern mit ihrer emailartigen und ganz ebenen Oberfläche nicht an, wie viele technische Prozeduren notwendig waren, um diese Selbstverständlichkeit einer vollkommenen Erscheinung zu erreichen. Die Rasierklinge spielt natürlich auch weiterhin eine gewisse Rolle. Die glatte Oberfläche ist nur mit ihrer Hilfe erreichbar. Was der Pinsel nicht vermag, leistet sie bei hinreichend trockener Farbe durchaus, denn die dünnen pigmenthaltigen Plättchen der Schmetterlingsflügel ergeben sich auch beim Schleifen und Abschaben der Oberflächen.«
»Nicht mehr der Korrektur alleine oder der Zerstörung dient dieses scharfe Werkzeug, sondern auch der optischen Wirkung. Das ist nur ein Detail aus den Utensilien des Ateliers. Gegenwärtig sieht es so aus: Es ist zunächst einmal geräumig, ein Pavillon in einem Park, dem Hause benachbart. Im Atelier herrscht eine Distanz, die der Konzentration dienlich ist und Unordnung nicht aufkommen läßt. Auf ein Sechstel des Raumes reduziert, wäre dieses Atelier ein Chaos. So verteilen sich Staffeleien und bildhaltige Wände, und die Übersicht bleibt gewahrt. Für die ganz großen Formate und die komplizierten Problembilder hat Hausner sich eine eigene Konstruktion entwickelt: Eine große, in den Keller versenkbare Staffelwand, die das Bild elektrisch in jede gewünschte Lage heben kann. Wie Adam verschmäht Hausner die Vorzüge technischer Einrichtungen durchaus nicht. Hier zumindest sind sie an der richtigen Stelle. Dieses Atelier ist 'Hausners rationale Kulisse' und der Ort, an dem sie sich ständig verändert.« (Holländer, H. Rudolf Hausner. Werkmonographie. Offenbach, 1985. S. 221 ff.)
Die Architektur des Psychischen#
Betrachtet man die »Leonardo«-Bilder vor dem Hintergrund der sich daran anschließenden Entwicklung, nämlich ihre Vertiefung der Adam-Gestalt von etwa 1980 bis 1994, so zeichnen sich einige interessante Gestaltungsprinzipien ab, die in den »Leonardo«-Bildern bereits angelegt sind. Man mag den »Leonardo«-Zyklus entweder als den Abschluß einer ersten Periode, der der Ausdifferenzierung und der Ausweitung sehen, oder aber als den Beginn des sich anschließenden Adam-Zyklus. Wie auch immer, es soll die Sonderstellung dieser Bilder im folgenden dargestellt werden. Da ist zunächst einmal die Architektur, die in diesem Zyklus zu einer besonderen Bedeutung drängt. Hans Holländer hat auf eines der Vorbilder im Schaffen von Hausner hingewiesen, nämlich auf Vredeman de Vries und dessen Architekturkompositionen, die Hausner zu einer Lithographie angeregt haben, die als eine Vorläuferin für die »Leonardo«-Bilder gelten kann. (Holländer, H. Rudolf Hausner. Werkmonographie. Offenbach, 1985. S. 217ff.) Hausner hat indessen diese Architektur ausgeweitet, verändert und vor allem adaptiert auf die Verhältnisse der ihm gemäßen Topoi, nämlich Wien. Dieses Hausnersche Abendmahl findet an einem Ort statt, wo später dann das Labyrinth angesiedelt werden soll: vor der Silhouette des Kahlenberges, jenes Ortes also, den Hausner vor Augen hat, seitdem er sich aus dem 9. Bezirk heraus in der Welt zu orientieren beginnt und seine ersten Malexkursionen anstellt. Es ist der Blick ungefähr vom Zentrum Wiens aus in Richtung Ost-West. Die Architektur der Szenerie wird zur Stadtkulisse in Adam, der ungeliebte Sohn. Links ist die Rögergasse, im Hintergrund der Votivkirche zu sehen, also die Ansicht vom 9. Bezirk in Richtung Westen, und rechts der Donaukanal vom 9. Bezirk aus in Richtung Osten. Diese Ortsangaben sind insofern wichtig, weil die Transformation des Inhalts und dessen Variationen an eben diesem Ort, und keinem anderen, vonstatten gehen.
Es handelt sich schließlich beim Inhalt dieser Bilder auch um Lösungsversuche bei der Persönlichkeitsentwicklung von Hausner selbst. Nämlich, wie er nicht müde wird zu betonen (Hausner, R. Ich, Adam. Entdeckungen und Spiegelungen in Bildern, Hg. Schurian, W. München, 1987. S. 40ff.), um seinen Umgang mit den Autoritäten, angefangen von den Eltern über die Lehrer in Schule und Akademie, seinen Vorbildern in Malerei und Kunst, bis zu seinem großen Vorbild in der Weltanschauung der Seele, Sigmund Freud, welcher ebenfalls im 9. Bezirk gelebt und gewirkt hat.
Die Architektur bildet eine Art Hochsitz, einen Anstand, einen Beobachtungsturm, von welchem aus der Blick in die Tiefe gleitet; darüber eine Kassettendecke, die aber den Blick freigibt nach rechts und nach links. Dieser Turm - ein Symbol, das nicht nur bei Goethe eine Rolle spielt, sondern in der deutschen Romantik sowie der englischen Schauerromantik immer wieder gern herangezogen wird - formt einen Aussichts- und Einsichtsturm in einem. Erinnert wird man zudem an eine Traumkulisse: »Zur Optik des Träumers: die Reduktion auf das Gerüst. Eine Stadt wird zum Haus. Dann wird der Korridor zur Straße, an der sich die Zimmer reihen. Die Anlage kann auch als Wirbelsäule erscheinen, von der sich Fortsätze abzweigen. Warum nicht als Schote, an deren Naht sich die Erbsen mit Stielchen fügen - und so fort. Eine Dranläge fächert sich auf. Dazu das vage Gefühl in einer Traumstadt: dort schon einmal gewesen zu sein. Aber es war nicht diese Stadt und auch keine andere. Die Erinnerung reicht tiefer; sie stieg schon auf, als wir zum ersten Mal in einer Stadt waren.« (Jünger, E. Siebzig verweht III. Stuttgart, 1993, S. 431.)
Diese Architektur funktioniert in zusätzlicher Hinsicht wie eine Vorrichtung für eine Versuchsanordnung im wissenschaftlichen Sinn, auf die bei Hausner ja aus mehreren Gründen hinzuweisen ist. Er, der exakte Beobachter von Anordnungen, die sich aus Form, Farbe und Beleuchtung ergeben, konstruiert sich hiermit einen Beobachtungsstand quasi wie eine Einwegscheibe in der Psychologie, durch die hinaus alles Wesentliche zu sehen ist, bei der der Beobachter selber aber unsichtbar bleibt. Dieser Charakter wird in Adam, der ungeliebte Sohn I+II+III insofern noch jeweils verstärkt, als die weibliche Figur, die Eva im Unter- und im Vordergrund, die einzige Gestalt zu sein scheint, die mit dem Versuchsleiter, d.h. mit dem Maler, in direktem Kontakt steht. Sie scheint ihn anzublicken, ihn zu sehen, zumindest zu ahnen. Alle anderen Figuren wissen nicht um die Beobachtung. Die Architektur steuert also die Kulisse für einen exakt auszumachenden Ort bei - es ist der Übergang von innen nach außen, von Ost nach West, von Stadt zu Land.
Es ist der Ort des geographisch tiefsten Punktes Wiens, des Donaukanals, von wo aus sich die einzigartigen, untergründigen Gewölbe Wiens öffnen: die Kalkhöhlen, die Orte des Saturnischen - als auch diejenigen für die Anordnung eines Versuchs. Auf den saturnischen Charakter Wiens haben Dichter hingewiesen, wie einst Adalbert Stifter oder in neuester Zeit Gerhard Roth, wenn sie von den »Verließen« Wiens und von dem eigenartigen Charakter sprechen, der durch das besondere Gestein dieser Landschaft sich ausbildet. Bis zum Mittelalter dienten diese porösen Kavernen als natürliche Steinkeller für die Lagerung von Wein - oder für die Beerdigung der Toten. Im übertragenen Sinn verweist diese Geologie auf die Verbindung Wiens mit der Erdgeschichte. Es bedeutet einen Übergang von der geschichtlichen zur geologischen Zeit; und es ist der Ort des Aufeinandertreffens von Ost und West, an dem sich mehrmals angeblich das Schicksal des Abendlandes entschieden hat. Und es ist ein Ort auf der Nordsüdachse, wo klimatisch der Norden mit dem Süden verschmilzt.
Die solchermaßen besondere Architektur der «Leonardo»-Bilder - wie das Gemäuer aus rotem Backstein, ein Element, das der Wiener Architektur weitgehend fremd ist - assoziiert ein merkliches Ambiente. Zu denken ist an das Forum Romanum oder einen Sakralraum, eine Mischung aus romanisch und gotischen Säulen- und Deckenwerk; darin ein Versuchsaufbau, der abzielt auf Abläufe in Variationen um das Leonardosche Abendmahl herum, sowie die Einbeziehung der eigenen Vita in die illustre Gesellschaft.
Ausschnitte aus: Adam, der ungeliebte Sohn II, 1986-90
In ihr spielen jene Protagonisten und Statisten eine gewichtige Rolle, die sich von den üblichen Adam-Bildern abheben. Wie etwa Eva, Anne, Anima, das weibliche Prinzip, dem Saturnischen verwandt. Es ist das Fundament; es ist auch Gäa, die Beziehung zum Erdhaften, zum Untergrund. Und es ist der Verweis auf das Kosmische: das Spiel des Saturnischen mit der Einreihung in die Zentralperspektive, die auf Christus und das schwebende befremdliche Ei am Himmel im Hintergrund abzielt (Man denke hier an ein anderes großes »Abendmahl«, das des Duccio di Buonisegna, dem das Hausnersche stellenweise erstaunlich verwandt ist). Dieses überbordend Weibliche ist das A und O, der Anlaß und das Ziel aller »Leonardo«-Bilder. Es ist insofern eine bedeutsame Ausweitung, da in der urspünglichen Abendmahlsgesellschaft keine Frauen präsent sind. Es ist die Erweiterung des christlich-pa-triachaischen Prinzips, auch abgeleitet aus der Biographie Leonardos selbst. Darüber ergibt sich wieder ein Bezug zu Freud, der in einer seiner Schriften über Leonardo auf die Beziehung zu dessen Mutter zu sprechen kommt und damit eine Kontroverse auslöst, die bis heute noch nicht eingelöst worden ist. (Freud, S., Eine Kindheitserinnerungdes Leonardo da Vinci. Wien 1910. - Eissler, K.R. Leonardo da Vinci. Psychoanalytische Notizen zu einem Rätsel. Frankfurt/M., 1992. - Kofmann, S. Die Kindheit der Kunst. Eine Interpretation der Freudschen Ästhetik. München, 1993.)
Zu erkennen ist auch ein Zusammenhang mit dem Adam-Zyklus. Neben Eva im Vordergrund ist eine weitere wichtige Figur in der Tiefe, im Hintergrund, verankert: Ein junger Bursche im Matrosenkostüm, der vor dem Billardtisch der Abendmahlgesellschaft agiert. Dieser Junge, der dort vor den versammelten Autoritäten sein Spiel abzieht, wird im zweiten Bild insofern noch verdreifacht, als im Vordergrund zwei weitere junge Männer in Boxerpose zu sehen sind. Dabei handelt es sich ebenfalls um Mischungen aus Gestalten Adams aus früheren Figuren wie z.B. Matrosenbildern oder dem Odysseus des »Archebildes«. Die Boxervariationen in Bild III werden erweitert, als die gesamte Versuchsanordnung des Experiments sich mit den Autoritäten auf den zunehmend luftigeren Höhen im Hintergrund ausweitet. Hier geht es nun um Adams Kampf mit sich selbst. Alles ist äußerst prekär angelegt, eine einzige falsche Bewegung, und die gesamte Konstruktion mit den Personen fiele in sich zusammen. An diesem Versuchsaufbau, an dieser fragilen Architektur ist im Zusammenhang mit den Personen noch bemerkenswert, wie die einzelnen Figuren des Abendmahls jeweils in einer Verdoppelung bzw. Verdreifachung in komplementären Spektralfarben erscheinen. Dadurch wird der subtile Charakter des Zusammenhangs unterstrichen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Spielerei des malerischen Effektes willen. Sondern es geht um ein im buchstäblichen Sinn ultimatives Ausgreifen bis in die Vernetzungen der Beziehung hinein, sowie hinaus und hinüber in die Räume einer imaginierten Versuchsanordnung. Hausner hat damit eine Möglichkeit eröffnet, bei der die Personen auf verschiedenen Niveaus zu neuen Entwicklungen aufsteigen können. Sie können allerdings auch abstürzen. Das ist die andere Seite solchen Ausgreifens. Hausner zeigt nämlich gleichzeitig die Perspektive an, wonach das gesamte heikle Experiment in sich zusammenfallen kann. Beide Möglichkeiten sind offen. Der Punkt der äußersten Dynamik liegt außerhalb der Architektur, außerhalb der gemauerten Versuchsumgebung in der zentralen ßlickachse, wo der kleine Junge in sein Spiel versunken agiert und seiner ßiflardanforderung nachgeht. Der elitären Gesellschaft um ihn herum wird er scheinbar gar nicht gewahr.
Die Protagonisten der Leonardoschen Abendmahlsgesellschaft, die zwölf Apostel mit der zentralen Figur Jesus, bilden somit eine Staffage, eine Kulisse, einen Hintergrund an Zuschauern in Anordnung und Variation. Es bildet andererseits den Versuch Hausners, zu seinen Ursprüngen zurückzukehren: sowohl lokal an die Örtlichkeit, den erwähnten 9. Wiener Bezirk, als geschichtlich zu seinem Vorbild Leonardo. Und, im übertragenen Sinn, auf die Refigio hin, d.h. auf die archetypisch prägende Beziehung zwischen Ort, Zeit, Geschichte und seine katholische Erziehung in der Kindheit.
Dieser religiohafte Bezug, der über die bildliche Anordnung Leonardos weit hinausgeht, ist das eigentlich fesselnde Element, das sich malerisch allein durch die Art der Beleuchtung anzeigt. Der Übergang von Tag zur Nacht, oder von Nacht zum Tag, ist es, der indirekt die Erddrehung mit andeutet und damit den gesamtgeschichtlichen, evolutiven Verlauf der Erzählung hervorhebt. Er unternimmt eine anthropologische Standortbestimmung eigensinnigster Art. Hausner bewegt sich über die Psychologisierung und die Introspektion, die unablässige Selbstbefragung, hinweg und erkundet für sich jene Räume, in die dann später Adam verankert wird. Dabei geht es um die anthropologische Konstante von Zeit und Raum, welche über die Bewegung von Geschichte mittels Geschichten in ihrer Veränderung und malerischen Ausformung sichtbar wird. Die eigentümliche Komposition des differenzierten Aufbaus in formaler und inhaltlicher Hinsicht dieser Bilder verweist auf einen quasi wissenschaftlichen Charakter eines Ex-perimentierens, das sich vor den Augen des Betrachters abspielt. Insofern bilden diese Hausnerschen »Leonardo«-Bilder eine bisher in der Malerei weder gekannte noch gekonnte Entsprechung zu einer Versuchsanordnung mit unterschiedlichen Variablen, die untereinander in einem inneren Zusammenhang stehen und die in Entwicklung begriffen sind. Als solche greifen sie auf den Betrachter über und beziehen ihn in die Vorgänge mit ein.
Inhaltsübersicht#
- Einleitung: Adam, ein Typus des Jahrhunderts
- Erstes Kapitel: Leonardo
- Zweites Kapitel: Familienbild
- Drittes Kapitel: Adam 1
- Viertes Kapitel: Eva
- Fünftes Kapitel: Adam 2
- Sechstes Kapitel: Adam 3
- Siebtes Kapitel: Narrenhut
- Achtes Kapitel: Labyrinth
- Neuntes Kapitel: Adam 4
- Werkmonographie
© Walter Schurian, Hausner- Neue Bilder - 1982-1994, Edition Volker Huber