Neue anthropologische Erkenntnisse zur Bevölkerung der frühen La-Tene-Zeit im ostösterreichischen Raum#
Von
Silvia Renhart
Aus: Archäologie Österreichs. Ausgabe 1/1-2, 1990
Im Rahmen der Dissertation mit dem Titel "Zur Anthropologie der f rühlatenezeitlichen Bevölkerung Ostösterreichs" (Wien, 1990) war es erstmals möglich, umfangreichere frühlatenezeitliche Gräberfelder aus Niederösterreich und dem Burgenland anthropologisch zu untersuchen. Für diese Arbeit standen insgesamt 224 Körper- und 57 Brandbestattungen folgender Fundorte zur Verfügung:
Franzhausen, Mannersdorf, Pöttsching, Karlsbach, Fischamend-Markt, Göttlesbrunn, Au a. d. Leitha, Brunn a. d. Schneebergbahn, Neufeld, Kleinhöflein, Pötteisdorf, Donnerskirchen, Winden, Jois und Neusiedl am See. Der Großteil der Bestattungen wies eine Süd-Nord- bzw. Südsüdwest-Nordnordost-Orientierung auf, die Totenhaltung war durch die gestreckte Rükkenlage bestimmt.
Die Skelette wurden in meist sehr ausgedehnten Grabanlagen, bestehend aus Grabgärten in Quadrat- und Kreisform sowie Grabeinbauten aus Holz und Stein (Leithakalk) vorgefunden. Der Erhaltungszustand des Skelettmaterials ist allgemein als schlecht zu bezeichnen, was wohl zum Großteil auf die Aggressivität der Säuren im Erdreich zurückzuführen sein darf. Als Träger der La-Tene-Kultur werden die Kelten (griech. Keltoi; lat. Galli) genannt. Bereits 500 v. Chr. werden sie von Hekataios von Milet literarisch bezeugt. Die Kelten stellten, ebenso wie die Griechen des Altertums, kein "Volk" in unserem Sinne dar, denn es gab bei ihnen weder "nationale Einheit" noch politische Geschlossenheit. Ihre Gemeinsamkeiten lagen in ihrer Sprache, ihrer Religion und in ihrer materiellen Kultur, wobei sich auch hier immer wie der lokale Eigenheiten zeigten. In historischen Berichten werden die Kelten als Menschen mit goldblonden Haaren und milchig weißer Haut be-schrieben. Im Gegensatz dazu besteht die Auffassung, die heute in England verbreitet ist, von einem sogenannten Celtic type, das heißt, kleinen Menschen mit dunklem Haar. Das "äußere Erscheinungsbild" vermag die "physische" Anthropologie anhand von osteologischem Material zwar nicht mehr zu rekonstruieren, jedoch ist es mit verschiedenen Untersuchungsmethoden unter anderem möglich, Erkenntnisse bezüglich Geschlechterrelation, Altersverteilung, durchschnittliche Lebenserwartung, Kleinkindersterblichkeit, Populationsgröße, Sterblichkeitsraten sowie des morphologischen Erscheinungsbildes, der Ähnlichkeitsbeziehungen mit anderen Bevölkerungen und des Gesundheitszustandes zu erfassen.
Für die Fundorte Franzhausen und Mannersdorf trifft der Terminus "gemischtbelegte" Friedhöfe zu, welcher die Koexistenz von Körper- und Brandbestattungen meint. Innerhalb der Gruppe der Brandbestattungen ist zwischen Urnen- und Brandschüttungsgräbern zu unterscheiden. Bisherige Erfahrungen zeigen zwar, daß diese beiden Formen alleine meist keine sozialen Unterschiede belegen, jedoch verzögert sich die endgültige Beantwortung dieser Frage bis zur Fertigstellung der archäologischen Auswertung.
Denkbare Motivationen des Nebeneinander dieser beiden Bestattungsformen auf einem Gräberfeld könnten, wie anhand ethnologischer Quellen ersichtlich, eventuell soziale Faktoren wie Alter, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sozialer Status, bestimmte Krankheiten oder Todesarten, Jahreszeit des Todes sowie Abstammung sowie ethnische oder rassische Zugehörigkeit des Verstorbenen sein.
Als besonders auffällig erwies sich jedoch für beide Bestattungsarten das Fehlen von subadulten Individuen. Es konnten insgesamt nur drei Säuglinge (1,2%) und 50 Subadulte (19,2%) diagnostiziert werden, wobei im Normalfall bei prähistorischen Populationen mit einer 20%igen Säuglings- und einer ca. 50 - 60%igen Kleinkindersterblichkeit zu rechnen ist. Hier ist wahrscheinlich mit besonderen Bräuchen, die das "Kinderdefizit" erklären, zu spekulieren wie z. B. soziale Stellung der Familie, besondere Todesarten oder Sonderstellungen, die diese in prähistorischen Bevölkerungen möglicherweise einnahmen. Natürlich sind auch Faktoren wie Erosion und "Pflug", da Kindergräber meist seichter angelegt wurden, zu berücksichtigen.
Es muß jedoch auch mit Sonderbestattungen gerechnet werden, das heißt, daß Säuglinge und Kleinkinder an anderen Stellen bestattet wurden als größere Kinder und Erwachsene. Diese Möglichkeit ist bei den gegenständlichen Gräberfeldern ebenfalls in Betracht zu ziehen, denn - laut einer mündlichen Mitteilung von J.-W. Neugebauer - konnten in latenezeitlichen Siedlungen, besonders im Bereich von Pfostensetzungen Kleinkinderknochen beobachtet werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug bei der Geburt für den ostösterreichischen Raum 26,2 Jahre und weist damit eine gute Übereinstimmung mit dem Dürrnberg mit 26,3 Jahren auf. (Schwidetzky, 1978)
Die höchste Sterbefrequenz liegt im "adulten" Bereich (Abb. 1), wobei hier ein besonders großer Anteil "adult" verstorbener Frauen auffällt, welcher wahrscheinlich auf die mit den Geburtskomplikationen zusammenhängenden Belastungen zurückzuführen ist. Denn ab dem 35. - 40. Lebensjahr steigt die Lebenserwartung deutlich an und ist mit dem Ende der reproduktiven Phase erklärbar. Das Verhältnis der Anzahl der Männer- zu den Frauenbestattungen ist zumindest für Franzhausen als relativ ausgeglichen zu bezeichnen (1:1,3), während hingegen für Mannersdorf (1:2,3) und Pöttsching (1:2,9) der Terminus "gemischtgeschlechtliche Frauenfriedhöfe" (Wahl, 1988) zuzutreffen scheint. Gründe für das Überwiegen der weiblichen Bestattungen sind möglicherweise in der hohen Frauensterblichkeit im gebährfähigen Alter oder etwa der größeren Anzahl an auswärts bestatteten Männern (Krieger, Händler usw.) und unter anderem auch in der geringeren Resistenzfähigkeit von männlichen Kleinkindern zu suchen. Weiters wurden an demographischen Daten auch die Populationsgröße und die Mortalitätsrate berechnet. Unter "Populationsgröße" ist die Anzahl der gleichzeitig Lebenden und unter "Mortalitätsrate" die Zahl der jährlich Verstorbenen in bezug auf Tausend Individuen zu verstehen. Dabei wurde für Franzhausen eine Populationsgröße von 58 und eine Mortalitätsrate von 26, für Mannersdorf 34 und 31 und für Pöttsching 12 und 34 Individuen ermittelt.
Der "männliche morphologische Durchschnittstypus" der ostösterreichischen La-Tene-Zeit weist einen mittellangen, schmalen, mittelhohen bis hohen, seinem Längen-Breiten-Index nach dolichokranen Schädel auf. Das Gesicht ist hochschmalförmig, die Orbitae sind eng und niedrig bis mittel hoch, während die Nase hoch und breit und nach dem Nasalindex als mesorhin zu werten ist. In der Oberansicht weisen die männlichen Schädel gleich häufig eine pentagonoide als auch eine spheroide Umrißform auf.
Der Hirnschädel der weiblichen Individuen ist im Durchschnitt lang, mittelbreit, mittelhoch bis hoch und seinem Längen-Breiten-Index nach dem mesokranen Bereich zuordenbar. Das Gesicht ist wie bei den Männern hochschmalförmig, die Orbitae sind eng und mittelhoch und die Nase ist mittelbreit und sehr hoch sowie nach dem Nasalindex der Kategorie leptorhin zuzuweisen.
Ihrer Form nach sind die weiblichen Schädel in der Aufsicht pentagonoid mit schwach bis mittel betonten Tubera parietalia.
Die durchschnittliche Körperhöhe der Männer beträgt nach Breitinger (1937) 169,2 cm, und die der Frauen nach Bach (1965) 159,2cm.
Bisherige Forschungen ergaben sowohl für Süd- und Westdeutschland, welches in der Eisen- und Römerzeit überwiegend keltisch besiedelt war, als auch für den südwestslowakischen und ungarischen Raum eine weitgehende typologische Heterogenität. Allgemein wurde festgestellt (Schwidetzky, 1979), daß innerhalb des anthropologischen Materials Mitteleuropas engere ethnische Beziehungen, wie sie sich für das Neolithikum und die Bronzezeit noch klar abzeichneten, fehlten. Der festgestellte Trend zur "Anähnlichung" der europäischen Bevölkerung setzt sich in der Eisenzeit fort und ist auf die zunehmende Bevölkerungsmischung zurückzuführen. Bei einem Vergleich der gewonnenen Daten mit jenen Mitteleuropas zeigt sich, daß die Männer Ostösterreichs denen vom Dürrnberg am ähnlichsten sind, während hingegen die Frauen größere Ähnlichkeiten mit dem südwestslowakischen Material aufweisen. Im großen und ganzen bestätigt sich auch hier eine weitgehende typologische Heterogenität und ein Kontinuum der eisenzeitlichen Bevölkerung. Aufgrund von Ähnlichkeitsvergleichen (Serion, stadier 1990) verschiedener Merkmalssysteme wurde versucht, Verwandtschaftsgruppen innerhalb der Gräberfelder herauszufinden. Basierend auf der Erkenntnis, daß die räumliche Nähe von Gräbern Hinweise auf verwandtschaftliche Beziehungen geben können, wurden sich ergebende Gruppierungen näher untersucht. Wichtige Hinweise auf die Lebensumstände prähistorischer Populationen vermögen unter anderem Kenntnisse des Klimas, der Ernährungsweise sowie pathologischer Veränderungen am Knochenmaterial zu geben. Die Analyse der Tierknochen (in dankenswerter Weise von E. Kanelutti durchgeführt) ergab, daß als Fleischbeigabe das Schwein, gefolgt von Rind und Huhn am beliebtesten war. Es zeigte sich, daß der Wildtieranteil an der Nahrung sehr gering war und sich die Lebensweise wahrscheinlich hauptsächlich auf intensiven Ackerbau und Viehzucht stützte.
Ungünstige klimatische Bedingungen können sich auf den Gesundheitszustand einer Bevölkerung auswirken und Mangelerkrankungen, besonders im Kindesalter auftretend, hervorrufen. So konnte z. B. ein starker Wurmbefall, welcher einerseits durch unhygienische Verhältnisse und andererseits durch ein feucht-warmes Klima begünstigt wird, in den prähistorischen Exkrementen der Bergleute von Hallstatt und Hallein nachgewiesen werden (Schwidetzky, 1978).
Das Paläoklima der frühen La-Tene-Zeit dürfte ein relativ trockenes Wetter mit Durchschnittstemperaturen wie heute gewesen sein. Dies könnte, abgesehen vom Erhaltungszustand und dem Kinderdefizit, eine Erklärung für das relativ seltene Auftreten von Mangelerkrankungen im frühlatenezeitli-chen Material Ostösterreichs sein. Weiters konnten neben dem geringen Kariesbefall (22,2 %), abnützungs- und alterbedingte, degenerative Erkran-kungen der Gelenke, Frakturen, Myositis ossificans localisata, Osteomyelitis, Periostitis ossificans, osteolytische Metastasen auch Trepanationen belegt werden.
Um eine Sonderbestattung handelt es sich bei der Frau von Pöttsching 10. Dafür sprechen die abweichende Totenhaltung - die Frau wurde am Bauch liegend bestattet - sowie das beigegebene Amulett und das Krankheitsbild der Periostitis ossificans. Obwohl pathologisch unauffällig, ist möglicherweise auch die Frau aus Franzhausen 59 als Sonderbestattung anzusprechen. Denn den beigegebenen "Hasenpfoten" könnte durchaus der Charakter eines Amulettes zugesprochen werden.
"Symbolische Trepanationen" treten an den Schädeln von Franzhausen 73 (Abb. 2), Mannersdorf 31 (Abb. 3) und Göttlesbrunn auf.
Sie weisen die typisch grubenförmige Struktur und die mit verschiedenen Steilheitsgraden ausgestatteten Böschungsflächen sowie die geglätteten Ränder und Defektböden auf. An zwei weiteren Schädeln - Franzhausen 329/I (Abb. 4) und Mannersdorf 176 - konnten nahezu kreisrunde, mit Heilungsspuren versehene Eintiefungen unterschiedlicher Tiefe festgestellt werden. Dabei scheint es sich um "Einritzungen" zu handeln, die mit Hilfe eines Trepanationsinstrumentes (Ahle, Pfriem) vorgenommen worden sind. Eine chirurgische Trepanation wurde am Schädel des Kriegers von Franzhausen 7 (Abb. 5) durchgeführt. An dessen Schädel sind lochförmige Läsionen unterschiedlicher Größe sichtbar. Die Ränder der "Öffnungen" sind teils abgerundet, teils scharfkantig begrenzt. Sie bilden eine sogenannte Hohlkehle, das heißt, die Tabula externa und interna "überragen" die Diploe, deren Spongiosastruktur verstrichen ist.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden diese Läsionen durch osteolytische Metastasen verursacht. Durch den Turgorverlust der Haut kam es wohl zu Dellenbildungen an der Schädeloberfläche, welche bei kachektischen Patienten besonders deutlich sind. Im Bereich solcher Dellen an den Ossa parietalia kam es zu dem operativen Eingriff. Wiederum lassen die Spuren auf ein Trepanationsinstrument schließen, mit dem die "kariösen" Läsionsränder weggeschnitten bzw. weggekratzt wurden. Heilungsspuren zeugen von einer geglückten und für längere Zeit überlebten Operation. Der chirurgische Eingriff sowie die sicherlich durch die lange Krankheit notwendig gewordene soziale Fürsorge durch die Mitglieder der Gemeinschaft und auch die reiche Grabausstattung lassen nicht nur auf eine hohe soziale Stellung dieses Mannes, sondern auch auf gute medizinische Kenntnisse und eine komplexe Sozialorganisation schließen.
Literatur#
- BACH, H. (1965): Zur Berechnung der Körperhöhe aus den langen Gliedmaßenknochen weiblicher Skelette. Anthrop. Anz. 29, 12-91.
- BREITINGER, E. (1937): Zur Berechnung der Körperhöhe aus den langen Gliedmaßenknochen. Anthrop. Anz. 14, 249 - 274.
- RENHART, S. (1990): Zur Anthropologie der frühlatenezeitlichen Bevölkerung Ostösterreichs. Ungedr. Diss. a. d. Formal- und Naturwiss. Fakultät der Universität Wien.
- SCHWIDETZKY, l. (1978): Anthropologie der Dürrnberger Bevölkerung. In: Pauli, L. (Hrsg.), Der Dürrnberg bei Hallein III. C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlug, München, 541 -581.
- SCHWIDETZKY, l. (1979): Rassengeschichte von Deutschland. In: Dies. (Hrsg.), Rassengeschichte der Menschheit. 7. Lfg. Europa V: Schweiz, Deutschland, Belgien und Luxemburg, Niederlande (München-Wien), 45 -101.
- STADLER, P. (1990): Kombinierte Auswertung archäologischer und anthropologischer Daten eines Gräberfeldes. Archäolog. Informationen (im Druck).
- WAHL, J. (1988): Süderbrarup - Ein Gräberfeld der römischen Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit in Angeln. II. Anthrop. Untersuchungen. Offa Bücher N.F. 64, Kiel.