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Hubert Christian Ehalt: Die Beschaffenheit der Welt#

Der Wiener Sozial-, Kultur- und Kunsthistoriker ist ein verdienter Wissenschaftsvermittler. Am 18. Mai feiert er seinen 70. Geburtstag.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 18. Mai 2019

Von

Anton Badinger


Hubert Christian Ehalt bei der Wiener Vorlesung am 2009-11-25
Hubert Christian Ehalt bei der Wiener Vorlesung am 2009-11-25
Foto: Rudi Handl. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

Wir treffen uns im Café Maria Treu im achten Wiener Gemeindebezirk. Ein herrlich aus der Zeit gefallener Ort, an dem die Oberkellner noch schwarze Fliege tragen und einem die Speisekarte mit serviler Professionalität vor der Nase aufklappen. Vom Kaiserschmarrn bis zum Schnitzel fehlt keiner der gängigen Klassiker, was man auch ein wenig riecht. "Die Hühnersuppe ist sehr gut", rechtfertigt sich Hubert Christian Ehalt, als er meinen Seitenblick auf die abgeschabten Samtüberzüge und die Mahagonivertäfelung bemerkt.

Ein paar Tage zuvor hat man ihm das Große Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien überreicht. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit wir das letzte Mal an einem Tisch saßen. Entsprechend zögerlich gestaltet sich der Gesprächseinstieg. Damals leitete Ehalt neben seiner Arbeit als Wissenschaftsreferent der Stadt Wien einige Seminare am Institut für Sozialgeschichte. Dass ich im Nebenfach an der Angewandten studierte, mochte ihn, der sich im Zweitberuf stets als Künstler verstand, neugierig gemacht haben.

Symbolisches Kapital#

Es kam zu einer mehrjährigen Zusammenarbeit, in der ich an der rastlosen Produktivität dieses Mannes teilhaben konnte, etwa bei der Redaktion seiner Reihe Wiener Vorlesungen im Picus Verlag, die seine Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Marie Jahoda, Ivan Illich oder Paul Watzlawick dokumentierte. Später gründete er das Ludwig-Boltzmann-Institut für Historische Anthropologie und stellte mich als wissenschaftlichen Mitarbeiter ein. Erst als ich mit Anbruch des neuen Jahrtausends in einem für ihn wahrscheinlich nicht ganz nachvollziehbaren Impuls in die Werbung wechselte, trennten sich unsere Wege.

Selten betritt ein Gast das Lokal, der sich nicht mit einem kurzen Gruß an meinen Gesprächspartner wendet. Ehalt hat sich nicht sonderlich verändert: Philosophenbart und Seidenschal waren schon damals seine Erkennungszeichen. So stellt man sich eher einen französischen Intellektuellen vor als einen Obersenatsrat des Wiener Magistrats. Versuchsweise komme ich auf das Ehrenzeichen zu sprechen, bei dessen Verleihung sich zwei Bürgermeister in Lobreden überboten, aber Ehalt winkt ab. Es sei eine besondere Ironie, dass er, der sich als Kulturwissenschafter ein Leben lang kritisch mit allen Facetten symbolischen Kapitals auseinandergesetzt habe, nun selbst damit überhäuft werde. Als Forscher sei er leider auch in diesem Punkt zu Skepsis und Ambivalenz verdammt - was freilich nicht dasselbe sei wie Undankbarkeit, setzt er verschmitzt hinzu.

Ehrungen pflastern in der Tat seinen Weg: Ehalt ist nicht nur Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften und Ehrenbürger der Universität Wien sowie Inhaber mehrerer Honorarprofessuren, sondern auch Chevalier des Arts et des Lettres. Lediglich bei der Erwähnung des letzten Titels lässt sich der überzeugte Francophile und Kenner der französischen Sprache und Kultur einen Anflug von Genugtuung anmerken. Schließlich habe er sich schon als Kind für Ritter interessiert - und was gäbe es Schöneres, als wenn sich Lebenskreise schließen.

Fast nimmt man ihm ab, dass ihm die vielen Titel lästig sind, und sei es nur, weil sie den Träger daran erinnern, dass er den Zenit seines Forscherlebens überschritten hat. Was ihn während seiner vierzigjährigen Karriere motivierte - als Wissenschafter auf dem Gebiet der Gesellschaftsgeschichte oder der Historischen Anthropologie wie auch während seiner Tätigkeit als Wissenschaftsreferent - waren jedenfalls ganz andere Dinge. Ehalt meint, es sei immer die gleiche Frage gewesen, die ihn antrieb: Wie ist die Welt, in der wir leben, eigentlich beschaffen?

Buchcover: Geschichte von unten
Buchcover: Geschichte von unten

Aus dieser Grundneugier entwickelte er seine Lebensthemen: (Wiener) Mentalitäten und Rituale, Statussymbole, kulturelle Beschleunigungsprozesse, die Ökonomie der Aufmerksamkeit u.v.a. Daneben gab es den engagierten Sozialwissenschafter, dem eine Geschichtswissenschaft mit emanzipatorischer Absicht ("Geschichte von unten") ein großes Anliegen war, sowie später das komplexe, weil politisch aufgeladene Wechselverhältnis von Kultur und Biologie, das er teils im Dialog mit Jürgen Habermas vertiefte.

Anlässlich seines 70. Geburtstags soll demnächst eine Festschrift zum Thema Geschichte und Gerechtigkeit erscheinen, und auch in dieser Autorenliste reiht sich ein illustrer Name an den nächsten.

Gerechtigkeit#

Gerechtigkeit bildet in Ehalts intellektueller Biografie einen Schlüsselbegriff. Man denkt hier zunächst an sein Projekt "Ich stamme aus Wien", in dem er Menschen, die 1938 vor dem Faschismus geflüchtet waren, nach ihren Schicksalen befragte. Ehalt hat in den neunziger Jahren stellvertretend für die Stadt eine Hand ausgestreckt, und viele haben sie ergriffen - verblüfft, dass man sich nach fünfzig Jahren plötzlich für sie interessierte. Und so ist es ihm gelungen, unzählige Emigranten mit ihrer alten Heimatstadt auszusöhnen, bevor sich das Zeitfenster, in dem dies möglich war, für immer schloss.

Um (späte) Gerechtigkeit ging es ihm auch in der "Wiederaufnahme des Verfahrens" des 1795 zum Tode verurteilten Sozialutopisten Franz Hebenstreit. Ehalt ließ den Prozess im Festsaal des Wiener Rathauses mit Richter, Ankläger und Verteidiger neu aufrollen, um eine symbolische Rehabilitierung zu erreichen; oder seine Augustin-Kolumne "Dr. Ehalts Praxis für nützliche Theorie", in der er brisante politische Themen aufgriff - eine Mühe, der er sich sechs Jahre lang unterwarf, auch wenn sie ihm an symbolischem Kapital wahrscheinlich rein gar nichts einbrachte. Aber die Rolle des intellectuel engagé liegt ihm nun einmal näher als die des Fachmenschen: Ehalt wurde zu einer Zeit akademisch sozialisiert, als es für Professoren noch zum guten Ton gehörte, sich in öffentliche Debatten grundsätzlich nicht einzumischen. Er brach mit dieser Tradition ebenso lustvoll wie mit vielen anderen.

Dabei denke ich unwillkürlich an die mit Gemälden und Grünpflanzen aufgepeppten Amtsräume am Friedrich-Schmidt-Platz, die eher einer barocken Kunst- und Wunderkammer glichen als einem modernen Verwaltungsbüro, wäre da nicht der überbordende Schreibtisch Susanne Strobls gewesen, die ihm täglich einen Pfad durch das Dickicht der Daten bahnte. Lebenskunst und Genuss waren für Ehalt ausgesprochen positiv besetzt. So konnte es an heißen Sommertagen schon passieren, dass einem eine Bowle angeboten wurde, die er oder eine seiner Mitstreiterinnen fachkundig mit einem Schuss Prosecco angesetzt hatten - jedenfalls bevor die gnadenlose GOM (Geschäftsordnung des Magistrats) solchen Capricen ein Ende bereitete. Aber die Botschaft war angekommen: selbst wenn man hart arbeitet, darf das Wesentliche - das Savoir-vivre - nicht verloren gehen.

Auch ohne prickelnde Erfrischungen verließ man Ehalts Büro meistens in irgendeiner Weise euphorisiert oder auf einem höheren Motivationslevel. Das mochte auch für die vielen Antragssteller gelten, die bei ihm vorstellig wurden, um eine Förderzusage der Stadt Wien zu erlangen. Ohne eine Debatte, die per definitionem ein wenig auszuufern hatte, gingen solche Treffen selten ab. Die Fähigkeit sich und andere zu begeistern war ein wesentlicher Schlüssel zu seinem Erfolg. Ein Enthusiasmus, der ihn selbst gelegentlich an Belastungsgrenzen führte. Es war nicht ungewöhnlich, dass man kurz vor Mitternacht noch einen Anruf aus dem Rathaus bekam.

Ehalt, der sich 1984 als junger und vielversprechender Wissenschafter auf Zuruf des damaligen Stadtrats Franz Mrkvicka bereit erklärte, das Wissenschaftsressort der Stadt zu übernehmen, wurde rasch zu einem effizienten und belastbaren Scharnier zwischen Universität und Stadt, was zur Folge hatte, dass das Wiener Modell auch international rezipiert wurde.

Wissenschaftspolitik#

Der Wissenschaftsstandort Wien konnte sich plötzlich sehen lassen. Vielerorts beneidete man die Stadt um ihre Wissenschaftspolitik. Dass ihr "Scharnier" mitunter vernehmlich aufquietschte, hat zu Ehalts Ruf nur beigetragen. Und so wurde er, der im Symboljahr 1968 immatrikulierte und später wie so viele seiner Generation den Weg durch die Institutionen antrat, mit den Jahren selbst zu einer Art Institution. Wer heute zum Thema kommunale Wissenschaftspolitik forscht, kommt um seinen Namen nicht herum. Seine zahllosen Initiativen und Projekte, unter denen hier nur die Wiener Vorlesungen - das Dialogforum der Stadt Wien - mit ihren insgesamt 1500 Einzelveranstaltungen hervorgehoben seien, sind zwischen 2003 und 2016 in den Wiener Wissenschaftsberichten dokumentiert.

Buchcover: Wiener Wissen
Buchcover: Wiener Wissen

Und wie sieht er die Zukunft der Wissenschaft? In einer Zeit, in der in- und außerhalb der Universitäten die Möglichkeitsräume wieder enger werden und auch die Kommunen ihre Gürtel enger schnallen? Ehalt ist kein Schwarzmaler, schon gar kein Apokalyptiker. Ehalt ist Optimist. Nach Möglichkeit sieht er das Positive. Er kann gar nicht anders. Hoffnungsvoll stimmen ihn heute etwa die emanzipativen Chancen der digitalen Revolution, die für ihn noch lange nicht ausgeschöpft sind.

Zum Abschied überreiche ich ihm ein kleines Geschenk, ein Kunstbuch, das ich für einen Freund gestaltet habe. Draußen empfängt uns ein Schneesturm, und er fragt, ob er mich ein Stück mitnehmen dürfe. Der Taxifahrer stammt aus Indien und ist vom Wetter nicht begeistert, doch Ehalt wäre nicht Ehalt, würde es ihm nicht gelingen, die mürrische Fassade mit scheinbar beiläufigen Fragen zu durchbrechen. Am Ende verstehen wir nicht nur die Nöte eines Durchschnittsimmigranten, sondern wissen auch eine ganze Menge über Verwandtschaftsstrukturen im Punjab. Der Fahrer fühlt sich plötzlich wertgeschätzt, und von der anfänglichen Reserviertheit ist nichts mehr zu spüren.

Es ist erstaunlich, dass ein Mensch, der so viel geschrieben hat wie Dr. Hubert Christian Ehalt, dem geschriebenen Wort letztlich genauso misstraut wie den Ehrungen und Preisen, die ihm zufliegen. Er klopft sein Gegenüber lieber persönlich ab. Lässt Leute über Dinge reden, die jenseits ihres Fachgebietes liegen, gerne auch außerhalb der Amtsstube, etwa in einem Kaffeehaus. Solche Deviationen sind in der Hand eines Könners durchaus effizient, aber sie sind auch zeitzersetzend und wirbeln gelegentlich Abläufe durcheinander. Sprich, sie sind ein Stück weit chaotisch. Aber wie heißt es im Professor Bernardi? -Als Beamter ist man entweder Trottel oder Anarchist.

Hubert Christian Ehalt ist der lebende Beweis, wie gut dem Wissenschafts- und Kulturbetrieb ein Schuss Anarchismus tut.

Literatur:#

  • Hubert Ch. Ehalt: Wiener Wissen. Entwicklungen, Projekte, Impulse. ed. seidengasse: Enzyklopädie des Wiener Wissens, Weitra 2017.
  • Hubert Ch. Ehalt (Hrsg.): Ich stamme aus Wien. Kindheit und Jugend von der Wiener Moderne bis 1938. Bibliothek der Provinz, Weitra 2008.
  • Hubert Ch. Ehalt (Hrsg.): Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags. Kulturstudien bei Böhlau, Wien 1994.
  • Hubert Ch. Ehalt, Eric J. Hobsbawm: Kunst und Kultur am Ausgang des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts. Picus, Wien 2008.
  • Hubert Ch. Ehalt, Oliver Rathkolb (Hrsg.): Wissens- und Universitätsstadt Wien. Eine Entwicklungsgeschichte seit 1945. Vandenhoeck+Ruprecht, Göttingen 2015.

Anton Badinger ist Werbedienstleister und Autor in Wien. 2018 ist bei Deuticke sein interkultureller Roman "Zwei unter einem Schirm" erschienen.

Wiener Zeitung, 18. Mai 2019