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An der Kippe #

Als vor 100 Jahren das Burgenland zu Österreich kam.#


Von der Wiener Zeitung (17. Dezember 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Erwin Schranz


Supron/Ödenburg hätte eigentlich die Landeshauptstadt des Burgenlandes werden sollen. Heute liegt es jenseits der Staatsgrenze.
Supron/Ödenburg hätte eigentlich die Landeshauptstadt des Burgenlandes werden sollen. Heute liegt es jenseits der Staatsgrenze.
Foto: © apa / Robert Jäger

Das Burgenland als neuntes und jüngstes Bundesland Österreichs scheint uns heute selbstverständlich. 1918 zeigte sich noch ein anderes Bild: Die Aussichten auf Angliederung waren mehrmals düster. Österreich lag nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg darnieder, das Heer war entwaffnet, in Wien herrschte Hunger, an allen Ecken und Enden wurden den Erblanden Gebietsteile abgetrennt. Nach der Jahrhundertwende hatten im Zuge erkennbarer Auflösungserscheinungen der Vielvölkermonarchie auch separatistisch-nationalistische Gedanken unter den Deutschen in Westungarn, vor allem in Wiener Kreisen, Fuß gefasst und verbreiteten sich zunehmend in der Bevölkerung.

Zwar hatte die Republik Deutschösterreich, die sich als Teil der Deutschen Republik ausrief und damit einbekannte, nicht selbst überlebensfähig zu sein, im November 1918 in einer Staatserklärung (und nicht im Gründungsdokument) alle deutschsprachigen Gebiete der österreichischen Reichshälfte und nun auch der ungarischen Komitate Preßburg, Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg für sich reklamiert, doch die Tschechoslowakei, die sich als Siegermacht betrachtete, verleibte sich die deutschen Randgebiete (Sudetenland) ein - mit mehr deutschsprachigen Einwohnern als die Staatsnation der Slowaken -, besetzte in einem blutigen Handstreich das noch zu 42 Prozent deutschsprachige und zu Ungarn gehörige Preßburg (mit 40 Prozent Ungarn und nur 6 Prozent Slowaken) und nannte es Bratislava. Derweil annektierte Italien Südtirol als "Kriegsbeute" unter Missachtung des in aller Welt hochgepriesenen Selbstbestimmungsrechtes, und die Untersteiermark wurde mit Militäreinsatz Slowenien zugeschlagen. Nur Südkärnten, dem ein ähnliches Schicksal drohte, blieb nach heftigen Kämpfen und mit Hilfe der Kärntner Slowenen aufgrund der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 bei Österreich.

Bei den Staatsvertragsverhandlungen in St. Germain 1919 wurde der österreichischen Delegation kühl zu verstehen gegeben, dass die Gespräche nicht auf partnerschaftlicher Ebene geführt würden und Kanzler Karl Renner bloß den Spruch der Siegermächte in Empfang nehmen könne. Nicht umsonst war von einem "Diktatfrieden" die Rede. Gleich der erste alliierte Entwurf der Friedensbedingungen war ernüchternd: Es gab nur territoriale Verlustmeldungen, von Deutsch-Westungarn an Österreich war keinerlei Rede. Mit heftigen Protesten und Eingaben mit ethnischen Zusammenstellungen über Westungarn wollte Österreich die Siegermächte überzeugen - was letztlich dank günstiger Umstände gelang.

Die Bevölkerung im betroffenen Gebiet verhielt sich in der allgemeinen Umbruchstimmung nach dem Weltkrieg abwartend bis resignierend. Seit Jahrzehnten war eine konsequente Magyarisierungswelle über alle Randgebiete Ungarns mit sprachlichen Minderheiten geschwappt. Nach dem Ausgleich von 1867 verfolgte die ungarische Regierung statt des bisherigen Staatskonzepts friedlich zusammenlebender Völker unter der toleranten Stephanskrone nun einen eindeutig nationalistischen Kurs. Da nicht einmal die Hälfte der ungarischen Bevölkerung die (an sich schwierige) ungarische Sprache beherrschte, wurde allerorten deren Erlernen zum obersten Ziel erhoben und stolz das Ungartum propagiert.

Inzwischen wiesen die früher rein deutschen Kleinstädte in Westungarn wie Wieselburg-Ungarisch Altenburg/Mosonmagyarovar, Güns/Köszeg und St. Gotthard bereits eine knappe ungarische Mehrheit auf - ein einleuchtender Grund übrigens, wieso dieses Gebiet zweiten Entwurf der Siegermächte zum Friedensvertrag vom 20. Juli 1919 bei Ungarn belassen wurde, während die übrigen Gebiete inklusive Ödenburg doch Österreich - sogar ohne Volksabstimmung - zugeschlagen wurden. Es galt aber noch etliche Stolpersteine zu überwinden.

Heinzenland, Vierburgenland, Dreiburgenland, Burgenland#

Das bisher namenlose, ursprünglich Heinzenland (hochsprachlich für das Land der Heanzen, der deutschsprachigen Bewohner) und dann Vierburgenland (nach den Wortendungen der vier betroffenen Komitate) genannte Gebiet, das nach der tschechoslowakischen Besetzung und dem Wegfall Preßburgs eine Zeitlang Dreiburgenland hieß, bezeichnete man nach Abschluss des Staatsvertrages dann ohne großes Aufsehen Burgenland (von den vier namengebenden Komitatsstädten war nur noch Ödenburg übrig).

Erwin Schranz studierte Rechtswissenschaften, Publizistik und Politikwissenschaften. Er war Richter, ÖVP-Politiker und burgenländischer Landtagspräsident
Erwin Schranz studierte Rechtswissenschaften, Publizistik und Politikwissenschaften. Er war Richter, ÖVP-Politiker und burgenländischer Landtagspräsident.
Foto: © privat

Die ungarische Regierung versuchte das Gebiet durch ein großzügiges Autonomiegesetz Anfang 1919 zu halten, ließ diesem aber keine Taten folgen. Deshalb und wegen der folgenden 133 Tage der Räterepublik Bela Kuns, die von "rotem Terror" beherrscht waren, schlug die Stimmung just während der Friedensverhandlungen deutlich zugunsten Österreichs um. Die Siegermächte hatten kein Interesse an einer Ausbreitung des Kommunismus über Ungarn womöglich noch weiter nach Westen und stärkten daher Österreich, das ohnehin unter Lebensmittelknappheit litt und über das nahe, agrarisch strukturierte Burgenland zusätzlich versorgt werden sollte.

Neben den Großdeutschen und Teilen der Christlichsozialen warben vor allem die Sozialdemokraten - die sich damals ausgesprochen deutschnational gerierten - für den Anschluss des Burgenlandes an Österreich. Schließlich waren viele westungarische Arbeiter in Wiener Neustadt, Wien und Umgebung in Fabriken beschäftigt und gewerkschaftlich organisiert, und die - nur zwei Tage währende - unabhängige Republik Heinzenland hatte im Dezember 1918 in Mattersburg der spätere sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Hans Suchard mit Hilfe eines Arbeitertrupps überstürzt ausgerufen. Auch die Landbevölkerung - damals fast drei Viertel der Einwohner - tendierte immer mehr nach Österreich. Die seit 50 Jahren andauernde Magyarisierung über die Schulen war an vielen Dörfern fast spurlos vorübergegangen.

Allerdings tauchte ein weiteres Hindernis auf: Die Tschechoslowakei, seit Anfang 1919 im Besitz Preßburgs/Bratislavas, strebte einen slawischen Korridor über (Deutsch-)Westungarn bis Jugoslawien und damit zum adriatischen Meer an, wobei die kroatischen Sprachinseln im heutigen Burgenland argumentativ und praktisch einbezogen wurden und der "deutsche Drang nach Osten unterbunden werden sollte". Trotz mehrerer Anläufe griffen die Alliierten diesen Plan nicht ernsthaft auf; die USA verwiesen auf die deutsche und ungarische Bevölkerungsmehrheit und die Gefahr, dass europäische Hauptverkehrsadern nachhaltig gestört würden.

Pfarrer, Adelige und Kroaten für Verbleib bei Ungarn#

Einige weitere Faktoren stellten einen (raschen) Anschluss des Burgenlands an Österreich allerdings ebenfalls in Frage:

- Der Einfluss der Kirchen - die katholischen Pfarrer hatten eine gediegen patriotische Priesterausbildung hinter sich und bevorzugten die ungarische Staatsangehörigkeit, die evangelischen sahen im teils reformierten Ungarn eine bessere Zukunft als im katholisch dominierten Österreich.

- Die rechtskonservative ungarische Regierung unter Reichsverweser Nikolaus Horthy wollte eine weitere Zerstückelung des "Reichs der Heiligen Stephanskrone" verhindern - Ungarn hatte im Staatsvertrag von Trianon 1920 zwei Drittel seines Staatsgebietes verloren - und setzte nun alles daran, wenigstens Deutsch-Westungarn zu behalten. Die Zuerkennung des Burgenlandes an Österreich laut Staatsvertrag war bisher nur auf dem Papier erfolgt - und die Siegermächte zeigten kein Interesse, zur Durchsetzung militärische Mittel gegen die gut gerüsteten Ungarn einzusetzen.

- Alle adeligen Großgrundbesitzer und ihre Arbeiter auf den Gutshöfen machten vehement Stimmung (und Eingaben) für den Verbleib bei Ungarn.

- Das Gleiche galt für die kroatischen Dörfer (etwa 15 Prozent aller Orte).

- Die Landbevölkerung wurde psychologisch geschickt vor dem Roten Wien gewarnt.

- Frankreich und Italien unterstützten grundsätzlich Ungarns Position; hingegen erlahmte das Interesse der fernen USA unter Präsident Woodrow Wilson (inzwischen Friedensnobelpreisträger) für diese Weltregion.

Freischärler erwiesen Ungarn einen Bärendienst#

Während Österreich innenpolitisch und wirtschaftlich heftig geschüttelt wurde und die neue christlich-sozial dominierte Regierung Ungarn nicht vor den Kopf stoßen wollte, versuchte dieses im entscheidenden Jahr 1921, in der Burgenland-Frage Zeit zu gewinnen. Ab dem Sommer intensivierte es seine Bemühungen, Westungarn auch mit militärischer Intervention zu halten: Ein "weißer Terror" mit (halb)regulären Truppen sollte möglichst vollendete Tatsachen schaffen.

Freischärler (abgerüstete Offiziere, Soldaten und Studenten) trieben schon seit Frühling 1921 ihr gewalttätiges Unwesen im ganzen Land, bekämpften die reguläre Landnahme im Burgenland durch österreichische Gendarmen und Zöllner ab 28. August 1921 und riefen sogar im Oktober 1921 einen eigenen westungarischen Freistaat Leithabanat in Oberwart aus. In etlichen Gefechten mit zahlreichen Toten vertrieben sie die österreichischen Uniformierten. Die Bevölkerung resignierte allmählich, teilweise regte sich aber aktiver Widerstand.

Die Guerillataktik, mit der das Land brutal überzogen wurde, verfehlte ihr eigentliches Ziel und bestärkte die Grundstimmung zugunsten Österreichs. Dieses kam letztlich über Vermittlung Italiens mit Ungarns Regierung, der die Freischärler immer mehr über den Kopf wuchsen, überein, das in St. Germain vereinbarte Gebiet an Österreich zu übergeben, aber in Ödenburg/Sopron eine Volksabstimmung durchzuführen: Dort zeichnete sich nämlich aufgrund der langjährigen Magyarisierung trotz einer noch knappen deutschen Bevölkerungsmehrheit (bei einer klaren Pro-Österreich-Stimmung in den Umlandgemeinden) ein Votum zugunsten Ungarns ab. Am 14. Dezember 1921 stimmte erwartungsgemäß (und nicht nur wegen Manipulationen und ungarischer Druckausübung) eine deutliche Mehrheit für Ungarn. Ödenburg und die acht umliegenden Gemeinden - dort gab es allerdings großer Mehrheiten für Österreich - blieben bei Ungarn.

Österreich gliederte in der Folge ohne größere Probleme das übrige Land mit seinen Dörfern ein, während die Städte - darunter Ödenburg, das als eigentlich Landeshauptstadt vorgesehen war - letztlich allesamt dem "Reich der Stephanskrone" erhalten blieben. Die folgende endgültige Grenzziehung Monaten nahm noch einige Korrekturen vor: Großgrundbesitz und einige kroatische Gemeinden gingen wunschgemäß an Ungarn, einige deutsche Dörfer im Tauschweg noch bis 1923 an Österreich. Letztlich war es für Österreich ein Gewinn und für das Burgenland selbst - eingedenk der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ödenburg und Umgebung 1946 und der 40 Jahre dauernden kommunistischer Herrschaft mit all ihren Folgen -- ein echter Glücksfall der Geschichte.

Übrigens, zum Thema jüngstes Bundesland: Bis heute überlegen spitzfindige Gemüter, ob nicht eigentlich Wien das jüngste Bundesland Österreichs ist, da es ja formell erst mit 1. Jänner 1922 (nach der Abtrennung von Niederösterreich) als eigenes Bundesland konstituiert wurde.

Wiener Zeitung, 17. Dezember 2021