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Die dritte soziale Kraft#

Das 100 Jahr-Jubiläum der Eröffnung des Gebäudes der Wiener Urania im Juni 2010 erinnert an die Wiener Volksbildung, die gleichwertig neben Arbeiter- und Frauenbewegung steht.#


Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung (19. Juni 2010)

Von

Brigitte Biwald


Urania
Das Wissen für Alle-Populärwissenschaftliche Wochenschrift 1902, Heft 50. Foto: Österreichisches Volkshochschularchiv

Bereits 1847 beantragte Adalbert Stifter die Einführung „öffentlicher Vorträge für die kleinen Leute“ an der Universität Wien, und tatsächlich kamen damals Sonntagsvorträge für Handwerker und Gewerbetreibende zu Stande.

So richtig in Schwung kam die Volksbildung aber erst in der liberalen Ära der Habsburgermonarchie: In den Jahren nach 1867 entstanden Volksbildungsvereine in der Steiermark, in Oberösterreich, Niederösterreich und Wien. Um 1900 verzeichnete man 950.000 Hörerinnen und Hörer und 3791 Veranstaltungen. Insbesondere Frauen nahmen diese neue Bildungsmöglichkeit freudig an.

1895 begannen die österreichischen Universitäten (zunächst in Wien, später auch in Innsbruck und Graz) systematisch aufgebaute Kurse von Universitätslehrern als „volkstümliche Universitätsvorträge“ anzubieten. Diese Bewegung erfasste die gesamte österreichisch-ungarische Monarchie und beeinflusste auch Deutschland. In den Nachkriegsjahren geriet diese Bewegung ins Stocken, wurde aber 1998 in Kooperation mit der Universität Wien durch den heutigen Vizebürgermeister Michael Ludwig als Vorsitzenden des Verbandes Wiener Volksbildung erfolgreich neu belebt.

Im Mittelpunkt der drei Wiener Stammvolkshochschulen (Wiener Volksbildungsverein in der Stöbergasse, Volksbildungshaus Urania Wien, Volkshochschule Volksheim Ottakring) stand die Konzeption einer weltanschaulich neutralen Bildungsarbeit. Orientiert am Vorbild der Berliner Urania wurde vom „Reformclub“ des Niederösterreichischen Gewerbevereins im Jahr 1897 die Wiener Urania gegründet. 1927 existierten in Österreich bereits 40 Urania-Vereine. Auch die Volkshochschule Volksheim Ottakring errichtete Zweigstellen in Wien.

Die Wiener Volksbildung erlebte im sozialdemokratisch regierten „Roten Wien“ eine zweite Blütezeit. Bildung wurde als Mittel und Weg zur Versöhnung der Klassen angesehen. Doch setzte sich auch die Kooperation zwischen Volksbildung und Frauenbewegung bis 1938 fort: Die Frauenrechtlerinnen Eugenie Schwarzwald, Marianne Hainisch, Rosa Mayreder, die Universitätsprofessorin Elise Richter, die Atomphysikerin Lise Meitner und die Nationalratsabgeordnete Stella Klein-Loew engagierten sich in der Volksbildung.

Um 1930 traten in der Wiener Urania so prominente Vortragende wie der Philosoph Heinrich Gomperz, der Jurist Hans Kelsen und der Schriftsteller Hermann Broch auf. Insbesondere für Jüdinnen und Juden, denen eine Universitätsprofessur in der Ersten Republik erschwert wurde, bot die Volkshochschule vor 1938 ein Betätigungsfeld. Somit war die Institution der Volkshochschule eine Art „sozialer Erlebnisraum“ für alle Schichten der Bevölkerung.

Aber dieser Raum war nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 zerstört: Ähnlich wie im Schulbereich wurde damit begonnen, die Volkshochschulen in regimekonforme Einrichtungen umzuwandeln. Einer der Hauptangriffspunkte war die Tradition der weltanschaulichen Neutralität. Dennoch wollte man im Austrofaschismus die Bildungsstätten erhalten. Daher entstanden neben der Volkshochschule Alsergrund im 9. Wiener Gemeindebezirk eine Evangelische und eine Jüdische Volkshochschule, deren Ziel darin bestand, die gebildete jüdische Oberschicht im religiösen und „vaterländischen“ Sinn zu erreichen. Dennoch kam es zu schweren ideologischen Auseinandersetzungen unter Funktionären und Vorständen der Wiener Volkshochschulen. Sozialdemokraten und „Linke“ wurden aus den Leitungen der Volkshochschulvereine entfernt. Als Gründe wurden unter anderem das „Vortragen eines veralteten Weltbildes, unernste Grundhaltung oder links-liberale Einstellung“ genannt.

NS-Pädadgogik#

Nach dem „Anschluss“ 1938 wurden alle bisherigen Kultur- und Bildungseinrichtungen aufgelöst und der kommissarischen Leitung des Gauvolksbildungswartes unterstellt. Die Volksbildung wurde zum reinen Propagandainstrument umgewandelt. Die „Vertreibung der Vernunft“ betraf die Volkshochschulen in hohem Maß.

Die neu eingesetzten Dozenten, fast ausschließlich akademisch ausgebildet, benötigten eine Bestätigung durch die NSDAP.

Sie referierten vor allem zu Themen der Geschichte, der Politik und der Biologie. Positiv zum Regime eingestellt, vermittelten diese Dozenten ihre nationalsozialistische Weltanschauung. Davon blieb auch die Kunst nicht verschont: So findet man im Herbstprogramm 1938/39 Kurse wie „Völkische Verbundenheit als Grundlage künstlerischer Höchstleistung“ oder „Entartete Musik und das Judentum in der Musik“.

In der ersten Nachkriegsdekade war der Aufbau der Erwachsenenbildung durch die schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse beeinträchtigt. Es musste Kontakt mit den vier Besatzungsmächten gehalten werden, die organisatorisch in die Bildungsarbeit eingreifen konnten. Dennoch gelang ab 1945 der Neuaufbau der Volksbildung in Wien mit Hilfe des aus der Emigration zurückgekehrten Rechtsanwaltes Wolfgang Speiser. Dieser setzte sich für die Zentralisierung ein und übernahm schließlich selbst die Direktion der Wiener Urania.

Ehemalige Mitglieder der NSDAP sollten in der Zweiten Republik nicht mehr beschäftigt werden. Dennoch unterrichteten an einigen Wiener Volkshochschulen ehemalige Nationalsozialisten Kunst- und Theatergeschichte sowie Philosophie und Psychologie. Unter den Kursleiterinnen und Kursleitern waren aber auch bedeutende Personen, die später im Kunst- und Kulturleben der Zweiten Republik eine wichtige Rolle spielten.

Man bemühte sich um eine Zusammenarbeit mit den Städtischen Büchereien und dem Österreichischen Rundfunk. Die Menschen dieser Zeit wollten sich „selbst begreifen“. Das führte im Winter 1948/49 zu einer Überfülle an Kursen aus Psychologie. Neben den Kursen zur Lebensbewältigung gab es auch Unterhaltungsveranstaltungen und die Urania-Puppenspiele. Reisevorträge, Theateraufführungen, Lieder- und Hausmusikabende waren kostengünstig und fanden, wie extra vermerkt wurde, in „geheizten Sälen“ statt. Prominente Vortragende wie Otto Mauer, Elfriede Ott, Oskar Werner, Erwin Ringel, Viktor Frankl, Hans Hass, Clemens Holzmeister und Leonie Rysanek konnten gewonnen werden.

Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955 und dem Abzug der Besatzungstruppen eröffneten sich weitere Möglichkeiten der Volksbildung: Neue Lernkonzepte und eine Berufsförderung für alle Altersgruppen wurden entwickelt, die fächerübergreifendes Lernen ermöglichen sollten. Haushaltungs-, Erziehungs-, Ehe- und Sexualberatungskurse erfreuten sich großer Beliebtheit und waren zum Teil kostenlos. Ernährungsthemen wie „Fasten mit der Dr.F.X.Mayr-Kur“ wurden schon in den 1950er Jahren angeboten. Den „Klub der älteren Menschen“ betreuten so prominente Frauen wie Franziska Stengel und Ingrid Leodolter.

Die Verbesserung der Lebensverhältnisse und der wirtschaftlich-technische Fortschrift der 1950er und frühen 1960er Jahre hatte auch Schattenseiten, wie die hohe Rate der Selbstmordversuche bei Jugendlichen zwischen 1949 und 1959 zeigt: Erwin Ringel betreute in diesem Zeitraum 11.432 Jugendliche.

In diesen Jahren gewann das Fernsehen an Bedeutung, wurde jedoch von manchen als Instrument der Volksverdummung angesehen. Die Volkshochschulen sezten sich mit der Frage, wie man das neue Medium Fernsehen positiv nützen könne, auseinander. Der damalige Fernsehdirektor Helmut Zilk betätigte sich als Koordinator zwischen Schule und Fernsehen. Ebenso wie das Fernsehen wurde auch die „Antibabypille“ als „Bedrohung“ angesehen. Im Kursprogramm einer Volkshochschule wurde dieses Thema unter dem Titel „Grünes Licht für Unmoral?“ behandelt.

„Aufwachen und weiterbilden“#

Mit diesem Slogan starteten die Volkshochschulen in die 1970er Jahre: Neue soziale Bewegungen, insbesondere die Friedens-, Ökologie- und Frauenbewegung waren Themen an der Wiener Urania. Die Wiener Volkshochschulen zählen aber auch zu den Vorreitern in der kritischen Auseinandersetzung mit damals noch tabuisierten Themen der österreichischen Zeitgeschichte.

Ende der 1970er Jahre investierte die Stadt Wien rund 290 Millionen Schilling in den Bau neuer Volksbildungszentren, genannt „Häuser der Begegnung“. „Lebenslanges Lernen“ lautete das Motto: Es entstand die Seniorenakademie, die sich in den 1980er Jahren großer Beliebtheit erfreute. Die Sprachkurse wurden didaktisch verbessert, und Anfang der 1980er Jahre wurde damit begonnen, Migrantinnen und Migranten mit einzubeziehen.

In den 1990er Jahren erfuhr die Programmgestaltung der Volkshochschulen eine enorme Veränderung: Nun musste der rasanten medientechnologischen Entwicklung Rechnung getragen werden, wozu der stetige Ausbau der EDV-Kurse einen bedeutenden Beitrag lieferte. Dadurch konnte einerseits den Frauen der Wiedereinstieg in den Beruf erleichtert und andererseits Seniorinnen und Senioren der Einstieg in das digitale Zeitalter ermöglicht werden.

Im Bereich der Freizeitangebote kam es zu einer Neuorientierung ganz im Sinne des Zeitgeistes: Mitte der 1990er Jahre ging die Aerobic- und Naturkostbewegung zurück, dafür entwickelte sich ein neues Körperbewusstsein. Die Volkshochschulen unterstützten mit ihren Programmen diesen Trend: Angeboten wurden nun „EDU-Kinesthetik“, „Biofeedback“ und asiatische Meditationstechniken. In den 1990er Jahren folgten die Volkshochschulen in der Programmgestaltung im sportlichen Bereich den Spuren von Ilse Buck, die schon 20 Jahre zuvor Bewegung mit Musik propagiert hatte. In den Kursprogrammen sind nun Mischformen, wie „Molly Robic“, „Jazztanz“ oder „Pilates“ zu finden.

Im Jänner 2008 wurde die Strukturreform der Wiener Volkshochschulen abgeschlossen: Die bisherigen Vereinsvolkshochschulen wurden in einer neugegründeten GmbH – „Die Wiener Volkshochschulen GmbH“ – zusammengefasst. Damit wurden die Weichen für eine erfolgreiche Bildungsarbeit für die Zukunft gestellt. Damit die große Tradition der Volksbildungsgeschichte in Wien – und darüber hinaus in ganz Österreich – nicht vergessen wird, gibt es seit mittlerweile 20 Jahren das Österreichische Volkshochschularchiv, in welchem die überlieferten historischen Dokumente, Protokolle, Korrespondenzen, Programme, Plakate und Bilder aufbewahrt werden. Vom Österreichischen Volkshochschularchiv wird auch die Fachzeitschrift „Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung“ herausgegeben und eine Website zur Geschichte der Erwachsenenbildung in Österreich betrieben, die unter www.adulteducation.at einsehbar ist.

Brigitte Biwald

Die Autorin Brigitte Biwald, geboren 1951, ist Historikerin und in der Erwachsenenbildung tätig.

Wiener Zeitung, 19. Juni 2010

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