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Die geteilte Stadt #

„Über die Mur gehst nicht drüber“, hieß es einst in Graz. Viel zu trennend war der Fluss, der die Stadt in ihren reichen Osten und armen Westen teilte. Die FURCHE begab sich auf einen stadtsoziologischen Lokalaugenschein im Heute. #


Mit freundlicher Genehmigung aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (2. Mai 2019)

Von

Tobias Kurakin


Uhrturm
Uhrturm
Foto: © Graz Tourismus - Harry Schiffer

Klein und rostend hängt ein Vorhängeschloss auf der Erzherzog- Johann-Brücke in Graz. Die Brücke ist eine von insgesamt 16, die beide Hälften der Stadt verbindet. Ein kurzer Fußmarsch von zehn Minuten Richtung Westen gibt einen ersten Einblick in die rechte Stadthälfte an der Mur. Man ist in Gries angekommen – dem fünften Grazer Stadtbezirk, der allgemein als „Problembezirk“ der steirischen Landeshauptstadt gilt. Die fünf Bezirke Lend, Gries, Eggenberg, Straßgang und Puntigam, die sich allesamt auf der rechten Murseite befinden, weisen laut Statistik 5221 Arbeitslose auf knapp 100.000 Einwohnern aus. Im Vergleich dazu haben die Stadteile am linken Murufer Andritz, Ries, St. Peter, Geidorf und Innere Stadt bei der gleichen Einwohnerzahl weniger als halb so viele Arbeitssuchende. Gries ist kein Nobelbezirk, auch seinen Bewohner ist das bewusst. Jeder Zweite sieht laut Lebenszufriedenheitsstudie der Stadt Graz seine Wohnlage schlechter im Vergleich zu anderen Stadtteilen. Vom einstigen Boom der Annenstraße, vormals die Einkaufsstraße der Stadt, ist heute wenig über. Was hier funkelt und glitzert, ist kein Luxus, sondern es sind billige Handyhüllen in Ramschläden. Elegante Fassaden oder schicke Geschäfte, die die Umgebung schmücken, sind selten. Verrauchte Lokale, kleine Supermärkte und Handyshops sind zentral für das Bild des Bezirks. Hinter einigen Schaufenstern herrscht Leere. Ihre Scheiben tragen einen Staubfilm, der sich mit der Zeit festgesaugt hat. An den Wänden dieser und vieler anderer Bauten sind Grafittispuren sichtbar, deren künstlerisches Antlitz immer mehr verbleicht. Bunt ist der Bezirk dennoch.

Von Motorenlärm zu Fahrradklingeln #

Insgesamt haben von den 33.000 Einwohnern rund die Hälfte Migrationshintergrund. Aus über 130 verschiedenen Ländern stammen sie, die meisten von ihnen aus Bosnien, der Türkei und Rumänien. Diese multikulturelle Vielfalt zeigt sich auch in den Geschäften. Zwischen einer kleinen Bankfiliale und einem Bekleidungsshop mit arabischer Aufschrift liegt eine der vielen Dönerbuden. Neben frisch geschnittenem Gemüse und sich brutzelnd drehendem Fleisch erzählt Muhitin Kilic, der Besitzer des Ladens, über seine Zeit in Graz: „Seit 16 Jahren sind wir hier in der Annenstraße und für uns passt es ganz gut. Mehr geht halt nicht.“ Um das Lokal zu kaufen, fehlt das Geld. Der rund 30 Quadratmeter große Laden ist gemietet – Gries ist mit durchschnittlich 10,45 Euro pro Quadratmeter Graz’ günstigstes Pflaster. Aufgrund von Zerwürfnissen mit Nachbarn hat es den Türken und seinen Geschäftspartner vom Griesplatz hierhin verschlagen. Auf die zwei Hälften der Stadt angesprochen, meint Muhitin Kilic schmunzelnd: „Ich nehme diese Grenze nicht wirklich wahr, aber vielleicht liegt es daran, weil ich fast nie auf der anderen Seite bin.“ Die Annenstraße weiter geht es Richtung Lend, den vierten Bezirk. Am Ufer der Mur gelegen, bricht die Grenze auf. Moderne Cafés, die exotisch klingende Limonaden anpreisen, Fair-Trade-Shops mit hippen Fronten gestalten hier das Straßenbild. Zudem ist Lend die Heimat des Kunsthauses. Das raumschiffartige Gebäude mit der Aufschrift „friendly alien“ zieht sich das Flussufer entlang. Es ist eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt und beheimatet Gemälde moderner Kunst sowie ein beliebtes Lokal. Kultur- und Kulinariksuchende kommen hier auf ihre Kosten. Lend ist der Grazer Bezirk, der in den vergangenen Jahren die vielleicht rasanteste Entwicklung genommen hat. Nachdem bereits das ehemalige Bordell „Baccara“ zum Szenelokal „Noel“ wurde, erlischt jetzt auch das Rotlicht im Laufhaus St. Pauli. Lange stiefmütterlich behandelt, lockt der Bezirk auf der rechten Seite heute junge Familien und viele Studenten an.

Über die Brücke zurück geht es auf die Ostseite der Stadt. Der Blick fällt auf die Franziskaner-Kirche, dann auf die „Kastner & Öhler“-Filiale, die sich am Ufer des Flusses angesiedelt hat. Der Gang zum fünf Minuten entfernten Hauptplatz am schmalen Gehsteig entlang verführt zum Schaufensterbummel. Ins Auge sticht ein extravagantes Messergeschäft. In dem nicht mehr als zehn Quadratmeter großen Laden sind unzählige, frischgeschliffene Messer auf Holzdekor ausgelegt. Den Straßenbahngeleisen folgend, erreicht man den Hauptplatz, kleine Imbissstände sorgen für einen verführerischen Duft vor dem Rathaus. Die Menschen, die hier leben, sind zufriedener mit ihrer Wohnsituation. 69 Prozent der Bewohner gaben bei der Lebenszufriedenheitsstudie an, sehr gerne in ihrem Bezirk zu leben. In Lend hingegen waren es nur 39 Prozent, die mit ihrem Stadtteil gleich zufrieden waren. Es geht weiter, die Sporgasse hinauf. Älter als die Stadt selbst, beheimatet die kopfsteingepflasterte Gasse zahlreiche kleine, exklusive Geschäfte in verschnörkelten Altbauten. Am Fuße des Anstieges, der die Gasse hinaufführt, glitzert und funkelt es – eine Swarovski-Filiale präsentiert sich in historischem Flair hinter Säulen und Bögen. Den knapp zehnminütigen Fußmarsch hinauf wechseln sich Hipsterläden, Trendgeschäfte und Restaurants ab. Kurz vor Ende der Gasse befindet sich das Geschäft „LittleFashion“. Hinter den Schaufenstern sieht man Puppen, Bauklötze und kleine Babystrampelanzüge.

Graffiti: Graz... du brauchst mehr Farbe!
Graffiti
Foto: © Tobias Kurakin

Karin Oberndorfer, eine Angestellte, beschreibt die Umgebung: „Auf der linken Murseite und ganz besonders hier in der Nähe ist die Kultur beheimatet. Das Schauspielhaus ist gleich um’s Eck und die Unis – natürlich macht das was her.“ Angesprochen auf die Teilung der Stadt meint sie kurz zögernd: „Ich weiß jetzt nicht genau, wie schlimm es drüben ist, früher war das sicher stärker – heute vermischt sich das immer mehr.“ Die Sporgasse zu Ende gehend, muss man sich in Acht nehmen, nicht von vorbeirasenden Radfahrern auf den Lenker genommen zu werden. Dominieren auf der anderen Seite der Mur Motorengeräusche, sind es hier die Fahrradklingeln. Vor allem im stark von Studenten bewohnten Bezirk Geidorf sind die Drahtesel in der Überzahl. Bürgerlich geprägt, studentisch dominiert, beschreibt den dritten Grazer Stadtbezirk heute wohl am besten. Der Großteil der 25.000 Bewohner ist zwischen 20 und 29 Jahre alt, viele von ihnen studieren an einer der vier Hochschulen im Bezirk. Knapp 82 Prozent der Bewohner schätzen ihre Lebenslage hier besser ein als in anderen Teilen der Landeshauptstadt. Idyllisch am Rande des Bezirkes liegt der Stadtpark – das Fleckchen Grün in der Landeshauptstadt des grünen Herzens Österreichs. Pensionisten spazieren hier durch die Anlagen und die Jugend entspannt sich bei einer Partie Fußball in der Wiese oder wälzt unter einem Baum Bücher. In der Nacht erhellt hier dagegen oft Blaulicht die Dunkelheit. Als Erholungsgebiet während des Tages genutzt, wird der Stadtpark am Abend zum Drogenumschlagplatz. Im Jahr 2016 hagelte es 1914 Anzeigen wegen Verletzung des Suchtmittelgesetzes im 4,6 Hektar großen Park hinter dem Paulustor.

In der Mitte zweier Hälften #

Der letzte Aufenthalt führt in die Mitte des Flusses – auf die Murinsel. Die schwimmende Plattform, die von den Wellen der Mur getroffen wird, ist Standort eines Designshops und eines Cafés. Kristin Egger, die stellvertretende Leiterin des Geschäfts, kennt beide Seiten sehr gut. „Über die Vorurteile weiß jeder Grazer Bescheid, die linke Seite ist etepetete, während die rechte Seite als problembehaftet gilt“, so Egger, die selbst in Gries wohnt. Viel abgewinnen kann sie den Vorurteilen und der angeblich trennenden Grenze allerdings nicht. „Ich glaube, dass es vor allem Grenzen im Kopf sind. Natürlich gibt es diese Unterschiede, aber sie werden auch oft überbewertet und konstruiert.“ Graz besteht, wie die meisten Großstädte, aus unterschiedlichen Teilen, die zusammengesetzt eine lebenswerte Stadt ergeben. In manchen dieser Teile sind die Unterschiede zu anderen stärker, mitunter sind sie aber genauso fließend wie die Mur selbst.

Der Autor ist Student an der Katholischen Medien Akademie.

Weiterführendes#

DIE FURCHE, 2. Mai 2019