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Erinnerungen an 50 Jahre Angewandte Informatik in Karlsruhe#

Lutz Wegner, Kassel

Am 22. Oktober 2021 feierte das Institut mit dem unausprechlichen Namen "Angewandte Informatik und Formale Beschreibungsverfahren" (AIFB), das Hermann Maurer und Wolffried Stucky an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der damaligen Universität Karlsruhe (TH), heute KIT, gegründet hatten, sein 50. Jubiläum. Wolffried Stucky fasste vor Ort zusammen, was den Erfolg dieses Instituts ausmachte und noch heute auszeichnet. Hermann Maurer war - coronabedingt - per Videovortag aus Graz zugeschaltet und zeichnete gewohnt unterhaltsam die ungewöhnliche Gründungshistorie und die Beweggründe für seinen späteren Weggang nach. Dieser Beitrag hier möchte das Bild aus Sicht eines der ersten Absolventen ergänzen und die Frage stellen "Welche Revolution darf es denn sein?".

Gordon Moore äußerte sich im April 1965 zur exponentiell wachsenden Dichte von integrierten Schaltungen. Carver Mead machte um 1970 herum diese Beobachtung als Moore'sches Gesetz bekannt. In der populärsten Variante besagt es, dass sich die Leistungsfähigkeit der Prozessoren und Speicher alle 18 Monate bei gleichen Preisen verdoppelt. Diese technische Entwicklung bildet bis heute eine der wesentlichen Grundlagen der „digitalen Revolution“ https://de.wikipedia.org/wiki/Mooresches_Gesetz.

Als Austauschschüler in den USA 1967/68 war ich bereits bei einer Exkursion zur UMass in Amherst mit FORTRAN in Kontakt gekommen (keine bleibenden Schäden). Nach dem deutschen Abitur 1969 verdiente ich mir etwas Geld am Sortierer, Mischer, Doppler in der DV der FIAT AG in Heilbronn und immatrikulierte mich in den ersten Jahrgang für Wirtschaftsingenieure in Karlsruhe. Was "Informatik" bedeutete, wusste ich nicht so recht, aber es schien den Mann (und die Frau) zu ernähren.

Revolutionär bewegt war ich als 68er natürlich auch, noch am Gymnasium in Heilbronn hatte ich mein erstes konspiratives Treffen mit den SDS Funktionären aus Marburg, wo es um Widerstand gegen unseren reaktionären Schuldirektor mit Nazi-Vergangenheit ging. Im Studium fuhr ich von Karlsruhe aus mit dem AStA nach Stuttgart, wo man kollektiv "Grillt das Hähnchen" (nach dem Kultusminister Wilhelm Hahn) rief. Dass angeblich unter den Talaren der Muff von tausend Jahren hing, war an der WiWi-Fakultät nicht zu verspüren, im Gegenteil, die aus den USA und Kanada ge-kommenen Dozenten bewiesen eine angenehme Ansprechbarkeit. Es dauerte dann noch einmal ein paar Jahrzehnte, bis auch ich endlich begriff, warum in Wirklichkeit in den USA bei den Dozenten die Türen immer offen stehen.

Mit dem Aufkommen der RAF ab 1970 und ersten Anschlägen in Karlsruhe 1972 war der Spuk mit der linken Räterepublik für mich beendet, zumal das anstrengende Studium, Werkstudentenaufenthalte bei IBM und der Studentenaustausch mit AIESEC nach Norwegen (1972) und Israel (1973) keine Zeit für politischen Aktionismus zuließ, mal abgesehen vom Dienst am Stand von Amnesty, der nicht nur männlich besetzt war. Ansonsten wollte Willy Brand in seiner Rede 1969 mehr Demo-kratie wagen, das war mir nicht unlieb.

An dieser Stelle wage ich zum ersten Mal, meinen besserwisserischen Zeigefinger zu heben. Hat die APO den großen gesellschaftlichen Umschwung gebracht? Vielleicht, was den Abbau von Hierarchien anbetrifft. Die eigentliche Revolution, die Erschaffung von Imperien aus Nullen und Einsen, hat der Transistor ausgelöst.

Nach dem Diplom im Sommer 1974 hätte ich gerne bei Hermann Maurer im AIFB promoviert, ich hatte mich in Van-Wijngaarden-Grammatiken bei der Diplomarbeit bereits eingearbeitet, aber er hatte keine Stelle frei und war auch mit Doktoranden überlastet. Er vermittelte mich zu J.E.L. Peck an die UBC in Vancouver. Mit einem Graduiertenstipendium über 800 DM im Monat, bei dem auch Aufenthalte im Ausland erlaubt waren, solange man in Deutschland immatrikuliert war und am Ende in Deutschland promovierte, ging ich an die Westküste Kanadas. 1976 mit Ablauf des Stipendiums kam ich zurück, im Schlepptau meine zukünftige Gattin. Maurer hatte zunächst nur eine Drittelstelle als Mitarbeiter zur Verfügung und ich promovierte am 23. Dezember 1977 bei ihm, eine seiner letzten Amtshandlungen vor dem Weggang nach Graz. Thomas Ottmann hatte als Zweitgutachter die undankbare Aufgabe übernommen, besonders gründlich alle Theoreme und Lemmata auf Korrektheit zu prüfen und allzu verschwurbelte Formulierungen zu glätten, was meiner Dissertation sehr gut tat.

Wolffried Stucky hatte die nicht weniger undankbare Aufgabe, das AIFB am Laufen zu halten, ihm und Thomas Ottmann als Maurers späterem Nachfolger bin ich aus ganzem Herzen dankbar, dass ich auf eine C1-Assistentenstelle wechseln konnte, mit dem Ziel der Habilitation, die ich 1983 er-reichte. Im Hintergrund wirkte Hermann Maurer, der über ICALP und EATCS Türen öffnete. Mit Wolffried Stucky und Volkmar Haase entstand 1981 eine leicht verständliche Einführung in die In-formatik mit der Zielgruppe Schulen, der immer frische Titel lautete "Datenverarbeitung heute". Das Lehrbuch brachte es sogar auf eine 2. Auflage 1984, die österreichische Lizenzausgabe floppte allerdings ("... dürfen wir Ihnen zur Vereinfachung der Abrechnung das anteilige Honorar als Brief-marke anbei ...").

Es war die Zeit des Commodore PET und der Programmierung in BASIC, der PET passte problemlos in meinen Golf. Towers of Hanoi programmierte ich mit optischer Umsetzung (PEEK and POKE) mit-tels rekursivem GOSUB. Der Bildschirm bot 40 Stellen in einer Zeile, darauf passten Scheiben mit maximal 12 Klötzchen in der Breite plus zwei Leerstellen am Rand und zwei für den Zwischenraum (3 * 12 + 4 = 40). Am Abend gestartet, war der Stapel mit maximaler Anzahl an Scheiben von A nach B mittels C zum Frühstück umgeschichtet.

Zugleich habilitierten sich am AIFB unter Ottmann noch Jürgen Albert und Hans-Werner Six, so dass Ottmann zu viele Häuptlinge und zu wenige Indianer auf seinen Mitarbeiterstellen hatte. Meine Vertretungen von Professuren in Darmstadt (C3) und Trier (C4, vermittelt durch Wolffried Stucky) entlasteten sein Stellenbudget nur wenig. Die Aussichten auf eine Berufung waren undurchsichtig, Peter Deussen von der Nachbarfakultät Informatik plädierte für ein Ende des Ausbaus der Informatiken. Es kam aber anders und spätestens 1984 waren wir ausgeflogen, ich zunächst nach Fulda, später nach Kassel , Hans-Werner Six, der leider schon 2016 verstorben ist, auf einen Lehrstuhl an der FernUni Hagen, Jürgen Albert auf einen in Würzburg.

Zeit, an dieser Stelle auf die Verdienste des AIFB für unsere Karrieren hinzuweisen. Neben dem guten Riecher für relevante Forschungsthemen, unzählige Gutachten, Gelegenheiten zu For-schungsreisen und Auslandsaufenthalten, muss besonders die Menschenführung herausgestellt werden. Konkret war dies ein Geben und Nehmen, Fairness, eine vorgelebte Leistungskultur, respektvoller Umgangston, Korrektheit in Prüfungssituationen, nicht zuletzt Zeiten der fröhlichen Ausflüge und Einladungen. Wer von uns Absolventen nach dem Sprung auf eine eigene Professur Personalverantwortung übernommen oder Diplom-, Bachelor-, Master-, Promotionsthemen vergeben hat, hat sich am Goldstandard des AIFB orientiert.

Insofern war die Feier zum 50. Gründungstags des AIFB am 22. Oktober 2021, hervorragend veran-staltet vom AIK e.V. unter schwierigen Corona-Bedingungen, ein mehr als würdiger Rahmen für den Rückblick. Vorträge junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bewiesen einmal mehr die Modernität und Dynamik, die von der Angewandten Informatik ausgeht. Das AIFB zieht kluge Köpfe an und möchte mit weiteren Professuren wachsen.

Hier erhebe ich zum zweiten und letzten Mal (versprochen) meinen besserwisserischen Finger. In einem Artikel in Nature aus dem Jahr 2012 wurde festgestellt, dass die Kosten für die Entwicklung neuer Medikamente in den letzten 60 Jahren exponentiell gewachsen sind. Die Autoren nannten die Gesetzmäßigkeit Eroom's Law. Eroom ist Moore rückwärts, alle 18 Monate steigen die Ausga-ben in der Forschung um das Doppelte bei gleichbleibenden oder sinkenden Ergebnissen.

Meine Behauptung ist, dass wir generell in der Wissenschaft, also nicht nur in der Pharmazeutik, gleichzeitig wohl auch bei Medien und im Kulturbetrieb das Phänomen des sinkenden Grenznut-zens erleben. Less bang for the buck, wie es in Amerika heißt. Eine der Ursachen könnte sein, dass die tiefhängenden Früchte bereits alle abgeerntet sind. Wer mehr fordert, wird es nicht leicht ha-ben.

Im Jahr vor Gründung des AIFB, also 1970, lebten 3,69 Mrd. Menschen auf diesem Planeten. Im Jahr vor dem 50. Jubiläum (2020) sind es bereits 7,79 Mrd., also mehr als doppelt so viele. Zwischen 2030 und 2050 (wenn ich meinen 101. Geburtstag feiere) wird die Zahl der Menschen über 80 in Deutschland von 6 auf mehr als 10 Millionen steigen, danach sinkt die Zahl wieder. Die Nachkriegs-kinder bis zur Einführung der Babypille lassen grüßen. In welchem Land wir leben werden, wenn zehn Prozent der Bevölkerung pflegebedürftig sind, will sich eigentlich niemand vorstellen. KI und Robotik in der Pflege werden uns allerdings nicht retten, das nur als Wink mit dem analogen Zaun-pfahl. Überbevölkerung, Migration, demografischer Knick, Klimakrise, Populismus, die totale Überwachung in China sind Stichworte, die mir heute in den Sinn kommen. Die alten Gewissheiten schwinden. Auf welche Revolution(en) wird man auf der Jahrhundertfeier des AIFB zurückblicken, wenn das Moore‘sche Gesetz schon lange nicht mehr gilt?

Wir lassen uns überraschen.

PS: Maurer’s Vortrag als Video und (zu) vielen anderen Informationen .