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Der Erfinder der Modernität#

Am 31. August 1867, vor 150 Jahren, ist Charles Baudelaire gestorben. Sein Leben und seine Literatur sind von Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit geprägt.#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 26. August 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Manuel Chemineau


Charles Baudelaire, 1855
Charles Baudelaire, 1855 aufgenommen vom französischen Meisterfotografen Nadar.
Aus: Wikicommons, unter PD

Im Titel seines berühmten Bandes "Die Blumen des Bösen" kommt es zu jenem Zusammentreffen scheinbarer Gegensätze, das in der Rhetorik "Oxymoron" genannt wird. Und damit ist auch das Leitmotiv von Charles Baudelaires Leben und Wirken benannt. Die Poesie dieses Dichters lobt etwa das Reisen und das Ausbrechen in ferne Gegenden, doch der Mensch Baudelaire scheint die sehr wenigen Reisen, die er unternommen hat, wie einen Albtraum erlebt zu haben. Als junger Mensch, der aufmüpfige Züge zeigt und gegen die Gesellschaftsordnung rebelliert, wird er von seiner Familie auf eine weite Schiffsreise nach Mauritius und Ceylon geschickt, um gezähmt zu werden. Die anfangs relativ angenehme Fahrt des 20-jährigen Baudelaire im Jahr 1841 endet in einer katastrophalen Rückfahrt.

In seinem berühmten Gedicht "Der Albatros" wird er später von "les gouffres amers" sprechen ("die bitteren Abgründe", in der berühmten Übersetzung von Stefan George als "schlimme Klippen" eher sinnverfremdend wiedergegeben). Im späteren Leben wird er sich kaum mehr von Paris entfernen, abgesehen von kleinen Abstechern nach Belgien oder ins rund 200 Kilometer entfernte Honfleur. Die Belgienreise von 1866 scheint ihm nicht sonderlich gut gefallen zu haben, denn sie gibt Anlass für eine Hassschrift über das Land und seine Hauptstadt ("Pauvre Belgique").

Obwohl er als Übersetzer von Thomas de Quincey und Verfasser der "Paradis artificiels" über Drogen und Wein schreibt und "Enivrez-vous" ("Berauschet euch") als Aufforderung formuliert, scheint er in der künstlerischen Arbeit wenig von Berauschungen zu halten.

Wie ein Kind#

Da der junge Bohème und Dandy, der in Künstlerkreisen verkehrt, zu verschwenderisch mit der väterlichen Erbschaft umgeht, schafft es sein Stiefvater, das konservative politische Chamäleon Jacques Aupick, mit dem Baudelaires Mutter eine zweite Ehe eingegangen ist, ihn unter eine Vormundschaft zu stellen. Baudelaire, der immer den Eindruck erweckt hatte, niemals jung gewesen zu sein, wird von nun an als Kind behandelt. Der Poet des Freiheitsstrebens, der als erster poète maudit eine Sonderstellung am Rande der Gesellschaft innehat, kann hat sich weder von seiner Mutter, mit der ihn eine Hass-Liebe verbindet, noch von der Vormundschaft des Familienrats befreien, sodass er lebenslang mit dieser Abhängigkeit kämpft und darüber klagt.

Es ist damals nicht unüblich, Prostituierte zu besuchen oder Mätressen zu unterhalten. Doch bei Baudelaire wird die systematische Wahl betont vulgärer Frauen als Lebensgefährtin zur Norm, als ob die Liebe und die Frau als Ideal unerreichbar bleiben und nicht entwertet werden sollten. Als unmögliche und unerreichbare Liebe gilt auch seine lebenslange Verbindung zu seiner Mutter, der er Liebesbriefe schickt.

Sein Lebensstil erstaunt die Zeitgenossen, die nicht wissen, wie sie diesen mode de vie zuordnen sollen und ihn entweder ablehnen, grotesk finden oder überfordert sind. Die Zeitgenossen, die ihn erlebt haben, berichten von seinen überraschenden provokativen, ernsthaften, dann auch wieder skurrilen Verhaltensweisen. Er liebte es scheinbar zu provozieren, aber nie bis zum Eklat, spielte mit seiner Diktion, um Kontraste hervorzuheben - sodass viele nicht wussten, wie mit ihm umzugehen und wie er zu verstehen war.

Diese Spannungen fließen in seine ästhetische Theorie, Lebens- und Kunsthaltung ein und gewähren ihm die Sonderstellung eines Menschen von immerwährender Modernität, der sich aber bis heute nicht leicht in Kategorien fassen lässt.

Ein Gefühl des Andersseins, das er schon als Kind empfindet, und das er in "Mon cur mis à nu" als "Sentiment de solitude, dès mon enfance" (Gefühl der Einsamkeit, seit meiner Kindheit) beschreibt, verhindert bei ihm die Möglichkeit jeglichen Natürlichkeitsempfindens. Der junge Baudelaire scheint sich unentwegt und wie von außen zu beobachten. Dieser Blick von außen, den er selbst auf sich wirft, bestimmt auch seine Sprach- und Stilauffassung.

Fast zur gleichen Zeit finden sich bei seinem Zeitgenossen Gustave Flaubert im Bereich der Prosa ähnliche Verhaltensweisen. Auch bei ihm sind Sprache und Stil etwas durchaus nicht Selbstverständliches. Doch ist weder die absolute Beherrschung der Sprache oder des Stils, noch der absolute Blick von außen möglich. Möglicherweise eröffnet diese tief empfundene Entfremdung erst die Möglichkeit der Kunst dieser zwei Giganten. Denn wenn Gustave Flaubert als Erfinder des modernen Romans gilt, ist Charles Baudelaire der Erfinder der Modernität - auch wenn er stilistisch die klassischen Formen nicht sprengen will.

Der Schock der Kürze#

Für ihn ist die poetische Wirkung ähnlich einem Schock oder Flash, darum muss eine der Anforderungen an die Dichtung - sei es in klassischen Formen wie einem Sonett oder Prosagedicht (petit poème en prose) - die Kürze sein, ein kurzer Text, der sich blockartig erfassen lässt und der sich wie eine plötzliche Erinnerung (ähnlich wie bei Proust) dem Bewusstsein in einer unmittelbaren Totalität aufzwingt.

Das bereits erwähnte Prinzip des Oxymorons, das er wie in seinem Leben auch in seiner dichterischen Arbeit anwendet, dient dazu, quasi Gegensätze schockartig aufeinander prallen zu lassen, damit der poetische Funken im Geist des Lesers entsteht. Dem Leser wird eine zentrale und sehr moderne Rolle zugeordnet: "La poésie gît dans l’âme du spectateur" (Die Poesie liegt in der Seele des Beobachters.") Kunst produzieren bedeutet, eine suggestive Magie zu erzeugen, die zugleich Objekt und Subjekt beinhaltet. Für Baudelaire ist es das Imaginäre, das auch das Grundprinzip des denkenden Gedächtnisses ist. Deswegen ist die Sprache Baudelaires eine klare, luzide. Sie erinnert in ihrem Streben nach Abstraktion und Nüchternheit an abstrakte Malerei.

Abstrakt bedeutet zudem: nicht trivial. Die Trivialität versucht er in seinem Dandyismus, der auch seine äußere Erscheinung als Kunstform auffasst, tagtäglich zu zerstören. Das Ablehnen der Trivialität führt zu einem Streben nach Künstlichkeit und wiederum zu einer Ablehnung des Natürlichen und gewissermaßen der Natur. Denn bei Baudelaire ist die Natur nicht natürlich, sondern ein abstrakter Korpus, der vor allem Symbole und Allegorien liefern sollte, weil die von archetypischer Natur sind.

Die wahre Natur ist für Baudelaire die Stadt mit ihren Landschaften, Regionen, Mysterien, magischen Begegnungen. Ein Thema, das oft bei ihm wiederkehrt ist das der Menschenmenge (la foule), das oft nur mitschwingt wie in "À une passante" (Tableaux parisiens) oder aber in "Les foules" (Le spleen de Paris)ausdrücklich auf den Punkt gebracht wird. Auch in der Novelle "The Man of the Crowd" von Edgar Allan Poe, die Baudelaire übersetzt ("L’homme des foules"), ist die Masse ein zentrales Thema.

Naturgemäß böse#

Das Phänomen der "foule", das seit der Französischen Revolution auf traumatische Weise in Paris besonders zu beobachten war, und das von Gustave Le Bon in seinem Buch "Psychologie der Massen" die erste systematische Analyse erfährt, ist eine städtische Erscheinung. Diese Menge - in der man baden kann ("prendre un bain de foule") - zeigt sich gewissermaßen wie eine Rückkehr zu einem vorzivilisatorischen Zustand, in dem das Individuum nur mehr geleitet wird von primitiven Instinkten. Hier löst sich jede Persönlichkeit in einem Kollektiv (der Masse) auf, um jegliche durch den Zivilisationsprozess erworbene Menschlichkeit abzulegen (siehe Fußballstadion).

So erfährt der rousseauistische Glaube an die natürliche Güte des Menschen eine Umkehrung: Der Mensch ist naturgemäß eher zum Bösen bereit, das Gute ist künstlicher Natur. Kunst ist ein Weg, durch Inspiration und Methode diese Künstlichkeit zu erreichen. Die Natur ist keine Künstlerin.

Der Flaneur, der ebenfalls eine städtische Erscheinung ist, unterscheidet sich von der Menge. Er geht mit langsamem Schritt, die Menge ist immer zu schnell, zu laut. Auch er badet in der Menge wie in einem Fluss, jedoch schwimmt er gegen den Strom. Oder er beobachtet sie von der Seite mit einer Mischung aus Faszination und Grauen. (Wie in der Beschreibung in Poes "Der Mann in der Menge".)

In den 40er Jahren entdeckt Baudelaire die Werke und die Persönlichkeit Edgar Allan Poes, den er sofort als Geistesverwandten wahrnimmt und bei dem er viele seiner eigenen Themen wiederfindet. Bis 1858 übersetzt er beinahe dessen gesamtes Werk als Erster auf kongeniale Weise, schafft so einen Meilenstein für die frankophonen Leser und sprengt mit seiner Nachdichtung zugleich die Grenzen der einfachen Übersetzung. Gleichzeitig ergänzen diese übersetzten Texte sein Werk um Romane und Prosastücke, die er als Poet und Kunstkritiker selbst nie geschrieben hatte.

Das Hauptwerk#

1857, mit 36 Jahren, publiziert er jenes Werk, das ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte sichern sollte: "Les Fleurs du Mal" (Die Blumen des Bösen). In diesem Gedichtband bricht er konsequent mit der lyrischen Tradition und führt eine moderne, quasi philosophische Poetik ein. Doch jede Epoche kennt ihre eigene Form der Political Correctness, und Baudelaire muss sich wegen anstößiger und unmoralischer Inhalte vor Gericht verantworten. Der Staatsanwalt ist übrigens derselbe, der noch im selben Jahr den Prozess gegen Gustave Flauberts Buch "Madame Bovary" führt.

Baudelaires subtile, fast neu-trale, aber sehr präzise Sprache ist nur schwer zu übersetzen, zumal es sich um lyrische Formen handelt. Die meistgelesene Übertragung ins Deutsch ist jene von Stefan George, die sich aber durch eine eigene Emphase und Wortwahl teils sehr stark vom Original entfernt. Die berühmteste und interessanteste deutsche Rezeption des Werkes ist eindeutig jene von Walter Benjamin, der mehr die philosophische Thematik hervorhebt und in Verbindung mit Bergson, Proust oder Freud bringt und ihn zum Poeten der Moderne schlechthin macht.

1866, während eines Ausflugs in Namur, erlebt Baudelaire in einer Kirche einen Schlaganfall, wahrscheinlich als Folge seiner fortgeschrittenen Syphiliserkrankung. Halbseitig gelähmt und in Aphasie, jedoch bei vollem Bewusstsein, kann er keine ganzen Sätze mehr sprechen. Vier Jahre zuvor hatte er bereits in einem ersten Anfall die Vorboten dieser Krankheit gespürt: "J’ai senti passer sur moi le vent de l’aile de l’imbécilité ". (Ich spürte wie mich der Wind des Flügels des Wahnsinns streifte.) Am 31. August 1867 stirbt Charles Baudelaire nach Monaten einer stillen Agonie. Er wurde 46 Jahre alt.

Wiener Zeitung, Samstag, 26. August 2017


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