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Ist Marx’ Religionskritik noch aktuell? #

Im Zuge des umfangreichen Marx-Gedenkens anlässlich des 200. Geburtstags des Philosophen fand ein Bereich relativ wenig Resonanz: seine Religionskritik. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese jedoch gerade aus theologischer Perspektive als unvermindert aktuell. #


Mit freundlicher Genehmigung aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (5. Juli 2018)

Von

Rudolf Langthaler


Karl Marx vor 1875
Karl Marx vor 1867.
Foto: Friedrich Karl Wunder (1815–1893). Aus: Wikicommons, unter PD

Karl Marx’ wuchtige Kritik an der Religion war einst berühmt: „Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind […] Die Religion ist […] ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.“ Religion ist demnach ein elementares Hindernis der Verwirklichung des „wahren Wesens“ des Menschen. Marx’ Kritik am religiösen Bewusstsein gipfelt in der eindringlichen Diagnose: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“

Ausdruck menschlichen Selbstverlustes #

Dass Religion „Ausdruck des“ und „Protestation gegen das wirkliche Elend“ sei: Darin erkannte Marx aber auch den verdeckten Wahrheitsgehalt der Religion – allerdings in falscher, weil „verkehrter“ Gestalt: „Die Kritik des Himmels verwandelt sich in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts.“ Das notwendige Bestreben, den „irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen“ zu durchschauen, ebendies verheiße eine religions-freie Zukunft. Die in realen gesellschaftlichen – sozio-politischen – Verhältnissen vorherrschende Unvernunft treibe den Wahnwitz des religiösen Glaubens hervor: Religion – nichts als die Kompensation erfahrener Ohnmacht, die bestehendes Elend narkotisierend erhält und auch rechtfertigt – Ausdruck des menschlichen Selbstverlustes, wurzelnd in der politisch- gesellschaftlichen Entfremdung des Menschen (den Marx das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ nennt).

Marx wollte damit bekanntlich die Religionskritik Ludwig Feuerbachs „radikalisieren“ – d. h. eben: „die Sache (der Religion) an der Wurzel fassen“ –, also jene Lebens„ umstände kritisch analysieren, die jene „religiösen Nebelbildungen“ und „imaginären Blumen“ erzeugen. Daraus erklärt sich die Marx’sche Forderung, das „religiöse Gemüt“ in seiner „weltlichen Grundlage“, d. h. als „gesellschaftliches Produkt“, zu begreifen: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“ Religionskritik ist deshalb notwendig emanzipatorische Gesellschaftskritik – und umgekehrt.

Marx’ Religionskritik findet anlässlich seines 200. Geburtstags bemerkenswerterweise relativ wenig Resonanz. Ist die inspirierende Kraft jener vehementen Kritik inzwischen etwa verdampft – ist sie angesichts des weltweiten Ausbleibens der Schwächung bzw. des Absterbens der Religion gar gegenstandslos geworden? Wird nicht vielfach eine „Wiederkehr der Religion“ diagnostiziert, ist nicht dort und da sogar von einem verheißenen „Ende der Säkularisierung“ die Rede? Muss man nicht Abschied nehmen von der Prophezeiung des allmählichen unvermeidlichen Verschwindens der Religion, das gängige Säkularisierungstheorien angekündigt hatten? Indes, die Messer der Marx’schen Religionskritik sind nach wie vor scharf – falsch oder gar verwerflich ist Marx’ religionskritischer Befund – in vielerlei Hinsicht – keineswegs!

Nach wie vor unstrittig und entscheidend ist doch dies: „Säkularisierung“ indiziert eine Entwicklung in den modernen Wohlstandsgesellschaften, die auch in den zunehmend leeren Kirchen Kerneuropas deutlich sichtbar wird. Aufklärung durch moderne Wissenschaft, der Wandel des Weltbildes und ein damit einhergehender Plausibilitätsverlust der Religionen, errungener Wohlstand und die Errichtung sozialer „Sicherheitsnetze“ in den westlichen Gesellschaften, d. h. die Abnahme von bedrohlichen Lebensrisiken, haben – einerseits – in der Tat den beschleunigten Verlust religiöser Bindungen, den ansteigenden Massenatheismus und eine weithin vorherrschende religiöse Indifferenz jedenfalls in Westeuropa begünstigt. Andererseits – ein signifikantes Kontrastphänomen! – sind es jedoch vornehmlich Religionen, die insbesondere in von hohen Zuwanderungsraten geprägten Gesellschaften diese Zuwanderer psychische Stabilität finden lassen, d. h. auch ein Gefühl von Schutz vor sozialer und existenzieller Verunsicherung vermitteln, wie sich in den Großstädten der USA (ebenso jedoch nach dem Zerfall der Sowjetunion!) in hohem Ausmaß zeigt – ein auch religionssoziologisch interessanter Befund.

Politische Indienstnahme der Religion #

Diese Faktoren erklären auch andernorts das Erstarken religiös konservativ-fundamentalistischer Kreise, das ist das rasche Anwachsen „religiöser“ Strömungen, die existenzielle und soziale Bedrohungen „auffangen“ bzw. mildern. Die Ausbreitung diffuser – hinduistisch-buddhistischer, islamischer, aber auch evangelikaler, „christlich“-pfingstkirchlicher – Gestalten von „Religiosität“ besonders in Afrika, Lateinamerika und Südostasien demonstriert dies deutlich. Vor allem die demographische Entwicklung in den armen Weltregionen zeigt klar, dass sozial-existenziell verunsicherte große Teile der Weltbevölkerung für einschlägige „religiöse“ Botschaften besonders anfällig sind: Ja, „Not lehrt beten“: lediglich eine eindrucksvolle Bestätigung für den von Marx betonten Zusammenhang zwischen sozialer Not, existenzieller Verunsicherung und „religiösen“ Befindlichkeiten, der die Verbreitung von Religionen verständlich macht. Dies ist angesichts der demographischen Entwicklung zu beachten, der zufolge auch das Christentum und der Islam weltweit ja keineswegs auf dem Rückzug sind, sondern insbesondere im globalen Süden – in Afrika, Asien, ebenso in Lateinamerika – geradezu „boomen“. Und natürlich gibt es allerorten – gleichermaßen in Russland, in den USA und nicht zuletzt in der islamischen Welt – auch eine vorherrschende reaktionäre, die „Geschäfte der Welt“ besorgende Indienstnahme der Religion für machtpolitische Zwecke.

Gleichwohl sind diese – den harten Kern von Marx’ Religionskritik weithin bestätigenden – Befunde nur die halbe Wahrheit, wie gerade auch in Marx’ Spur stehende Denker wie Adorno, Horkheimer und Habermas eindringlich vor Augen führen: Für sie scheint jedenfalls eine kritische Besinnung auf „unabgegoltene religiöse Bedeutungspotentiale“ unumgänglich zu sein – nicht zuletzt angesichts des nicht zu leugnenden Sachverhalts, dass eben auch „keine innerweltliche Besserung ausreicht, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“ (Adorno) – und „die Leiden der verflossenen Geschlechter finden keinen Ausgleich“ (Horkheimer). Auch profane Zeitgenossen unter uns „Aufgeklärten“ werden wohl für die – irritierende – Tatsache sensibel bleiben, dass die „Irreversibilität vergangenen Leidens – jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, […] über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht“. Gewiss: „Die Gerechtigkeit, die auf Erden möglich ist, ist keine rettende Gerechtigkeit. Gleichwohl sagt uns ein unbestimmtes moralisches Gefühl, dass es um der Opfer selbst willen falsch ist, die Akten über einen solchen Vorgang zu schließen“ (Habermas). Darin artikuliert sich lediglich der – dem ganz unsentimentalen Eingedenken verpflichtete – unbeirrbare Einspruch dagegen, „dass das Unrecht, das die Geschichte beherrscht, endgültig sei“. Jedem besinnungslos-gleichgültigen „Vorwärts, über Gräber hinweg!“ ist damit Einhalt geboten.

Absage an weltflüchtige „Wohlfühl“-Religion #

Ebendies ist doch – auch – ein quälender Stachel des kritischen religiösen Bewusstseins, das nicht mit illusionären Wünschen zu verwechseln ist, sondern vielmehr Fragen und – uns unbedingt angehende – Beunruhigungen wachruft, über die sich nur arrogant-leichtsinnige Gemüter allzu flott hinwegsetzen können: „Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt [von dem, „was zum Himmel schreit“]. Sie halten eine Sensibilität für Versagtes wach“ (Habermas).

Im Ausgang von Marx’ Religionskritik (und von dem in ihr auch artikulierten Wahrheitsgehalt der Religion) erwächst so eine sensible Nachdenklichkeit, die wohl kaum als „vormodern“ oder „von gestern“ zu verabschieden ist; sie mag ebenso die „Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ auf eine Weise beunruhigen, die auch vor dem Fegefeuer der „Aufklärung“ Bestand hat. Indes, solche Irritationen implizieren gleichermaßen eine entschiedene Absage an die allzu dürftigen Ansprüche einer weltflüchtigen, bequem-kuscheligen „Wohlfühl“-Religion, die wohl ebenfalls der Marx’schen Religionskritik ausgesetzt bleibt. Der Autor ist Professor am Institut für Christliche Philosophie an der Katholisch- Theologischen Fakultät der Universität Wien

DIE FURCHE, 5. Juli 2018