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Großer Erzähler mit Narrenmaske#

Am 28. Juni 1967 starb der Schriftsteller Oskar Maria Graf, der sich selbst als Spezialist für "Ländliches" bezeichnete. Sein Gesamtwerk zählt zu den eminenten Zeitdeutungen des 20. Jahrhunderts.#


Von der Wiener Zeitung (Sonntag, 18. Juni 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Michael Rohrwasser


Oskar Maria Graf
Oskar Maria Graf (1894-1967).
© Ullstein Bild/Fritz Eschen

Oskar Maria Graf, am 22. Juni 1894 in Berg am Starnberger See geboren, war, als er im Februar 1933 ins Wiener Exil ging, schon ein berühmter Autor, bekannt für seine Bauernromane, seine "Kalendergeschichten", sein "Bayrisches Dekameron" - auf seiner Visitenkarte stand: "Spezialitäten: Ländliches". Über Deutschland hinaus wurde er berühmt, wenigstens für kurze Zeit, als er nach der Bücherverbrennung der Nazis im Mai 1933 in der Wiener "Arbeiterzeitung" einen offenen Brief veröffentlichte mit dem Titel "Verbrennt mich!". Dort prangerte er das Unrecht an, das die neuen Machthaber in Deutschland ihm angetan hätten, weil man seine Bücher nicht mit denen seiner Freunde auf den Scheiterhaufen verbrannt, sondern sie stattdessen der Leserschaft des "Dritten Reiches" empfohlen habe.

Heute ist dieser Brief der meistgedruckte Text von Graf, vielleicht auch sein berühmtester, und das nicht ganz zu Unrecht, weil der Autor sich hier neu definiert, nämlich als sozialistischer, antifaschistischer Schriftsteller: "Wie fast alle linksgerichteten, entschieden sozialistischen Geistigen in Deutschland habe auch ich etliche Segnungen des neuen Regimes zu spüren bekommen" - so setzt sein Brief ein, und er kulminiert in der Aufforderung: "Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen. Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er selber wird unauslöschlich sein wie eure Schmach."

"Ein verjagter Dichter"#

Daraufhin wurden auch Grafs Bücher im Innenhof der Münchner Universität verbrannt, und ihm wurde die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Er ging in die Tschechoslowakei, dann nach New York. Bertolt Brecht, der sich bis dahin über Graf nur geärgert hatte, schrieb nun in seinem Gedicht "Bücherverbrennung": "Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste der / Verbrannten studierend, entsetzt, dass seine / Bücher vergessen waren."

Bis 1933 war Graf eben eher bekannt für seine "ländlichen Spezialitäten"; er nannte sich gerne "Provinzschriftsteller" und kümmerte sich liebevoll, aber doch mit unerbittlichem Blick um die Provinz, die bei ihm "Heimat" heißt; auch von "Volk" redete er gern. Vergesslich waren die Nazis keineswegs mit ihrem Umarmungsversuch: Grafs Bauernromane scheiden sich zwar sehr wohl von denen der "Blut-und-Boden"-Dichter, aber sie erzählen doch auch vom Sumpf der Großstadt, und in seinen "Kalendergeschichten" werden manche Städter auf dem Land gründlich durcheinander gerüttelt; spätestens im Stall verlieren sich ihre linksutopischen Phantasien. Freilich: Hohelieder auf den "Nährstand" findet man in Grafs Erzählungen nicht, seine Bauern waren unbelehrbar, verbohrt und schlitzohrig, wie bei seinen literarischen Lehrmeistern Ludwig Thoma, Leo Tolstoi und Maxim Gorki.

Ein Buch aber hatten die Nazis 1933 sehr wohl auf die Verbotsliste gestellt, und Graf erklärt es in seinem Artikel zu seinem "Hauptwerk", nämlich "Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt", das 1927 im Münchner Drei Masken Verlag erschienen war. Darin erzählt er sehr eindringlich, mit gnadenloser Selbstkritik und ohne Wehleidigkeit, die Geschichte seiner Jugend am Starnberger See, wo er als neuntes Kind eines Bäckermeisters aufwächst und als Lehrbub vom älteren Bruder Max geschunden wird, von seinem verzweifelten Ausbruch nach München, wo er "Dichter" werden will, von seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg, wo er wegen Befehlsverweigerung inhaftiert und ins Irrenhaus gesperrt wird, und schließlich von dem blutigen Durcheinander der Münchner Räterepublik im Frühjahr 1919, deren Niederschlagung er im Gefängnis erlebt. Ein starkes, ja ein gewaltiges Buch, das man gerne nennt, wenn man jemanden überzeugen will, einen großen Erzähler des zwanzigsten Jahrhunderts (wieder) zu entdecken. Aber wir kennen auch die Warnung Walter Benjamins: "Überzeugen ist unfruchtbar".

Dabei ist Graf schon einmal wiederentdeckt worden, nämlich in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als sein Bericht "Reise nach Sowjetrussland" von 1934 aufgelegt wurde, in dem er mit wachem Auge durch Stalins Sowjetunion reist, an einem großen Schriftstellerkongress in Moskau teilnimmt, viele Berühmtheiten trifft, von den Gastgebern gefeiert wird, aber im Gegensatz zu seinen deutschen und österreichischen Kollegen Distanz zum Geschehen wahrt. Er lacht laut auf, als Adam Scharrer, ein anderer bayrischer Schriftsteller, während der Eisenbahnfahrt auf die Kuhweide zeigt und versichert, noch nie habe er so glückliche Kühe gesehen.

Wo seine Freunde glauben, dass man das Moskauer Hotelpersonal mit Trinkgeldern nur beleidige, verteilt Graf seine Buch-Tantiemen großzügig unter die Leute und fährt sehr gut damit - offenbar wird man auf dem bayrischen Land ein besserer Menschenkenner als an der Berliner Marxistischen Arbeiterschule. Auch an das Verbot seiner kommunistischen Mitreisenden, in Moskau seine Lederhosen anzuziehen, hat er sich nicht gehalten.

Besonders beeindruckend aber ist seine Schilderung der Auseinandersetzungen mit den berühmten Dichterkollegen - mit Überraschung stellte ich seinerzeit fest, dass Graf klüger war als meine literaturtheoretisch versierten Kollegen, die vom "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" alles zu wissen glaubten. Man kann an diesen Porträts auch erkennen, dass seine Naivität gespielt war - Graf war ein kluger Beobachter mit sicherem Blick für Heucheleien und Verlogenheiten.

Das Nachleben#

Zwei große Werkausgaben sind nach Grafs Tod erschienen, eine bei der Büchergilde Gutenberg (in 16 Bänden), eine andere im Süddeutschen Verlag (18-bändig), in denen man recht unbekümmert einige von Grafs Büchern mit neuen Titeln versah. Nach einigem Widerstand gab es in seinem Heimatort Berg schließlich auch eine "Grafstraße".

Der Berliner Germanist Gerhard Bauer, nomen est omen, verfasste eine ganz ausgezeichnete Graf-Biographie (nachdem es 1974 schon in der DDR eine Werkbiographie gab, die den schönen Titel trug: "Ein Bayer in Amerika"). Es gab ein paar Symposien und zwei Verfilmungen, von denen vor allem Rainer Werner Fassbinders "Bolwieser" in Erinnerung geblieben ist. Martin Sperr, Franz Xaver Kroetz oder Herbert Achternbusch sparten nicht mit Hinweisen auf ihren Ahnherrn.

Aber dennoch ist Graf dann wieder in Vergessenheit geraten, ganz zu Unrecht, denn er ist einer der großen Erzähler der Unterdrückten und Entrechteten, den Walter Benjamin einmal mit Nikolai Lesskow verglichen hat. Romane wie "Der Abgrund" (1936), "Anton Sittinger" (1937), "Unruhe um einen Friedfertigen" (1947) und vor allem seine "Kalendergeschichten" (1929) und "Das Leben meiner Mutter" (1946) sind Vorläufer dessen, was heutzutage "Neue Heimatliteratur" heißt.

In Grafs letzten Lebensjahren sah es nicht gut aus mit seiner Reputation, und nicht nur, weil die Münchner sich schwer taten mit dem Erbe ihrer Emigranten und weil Kalte Krieger ihn "Kommunist in Lederhosen" tauften. Der Autor bekam nach dem Krieg aus der Heimat eine Aufforderung, doch bitteschön nachzuweisen, dass er emigriert sei. Weil einige Bücher von ihm in der DDR gedruckt wurden, hielten sich die westdeutschen Verlage mit Neuauflagen vornehm zurück; man beschränkte sich auf Bücher wie "Der große Bauernspiegel" - aber selbst dort kann man den großen Erzähler entdecken. Graf schien allen Grund zu haben für seine Voraussage, in wenigen Jahren werde sein Name "wie der vieler anderer mittelmäßiger Schriftsteller" vergessen sein.

Man könnte aber an einen ganz anderen, fast völlig vergessenen Roman von Oskar Maria Graf erinnern, ihn vielleicht sogar empfehlen, in dem er ein dunkleres Bild von sich zeichnet als in den anekdoten- und pointenreichen Autobiographien, in denen er zum Beispiel lautstark erzählt, wie er einem Kunstmaler namens Adolf Hitler einmal in einer Garküche die Meinung geigte ("Gelächter von außen", 1966). Ich meine "Die Flucht ins Mittelmäßige". Ein New Yorker Roman, der 1959 erschienen ist, ein Buch, das Graf anfangs "Der mißlungene Roman nennen" wollte - eine spröde Erzählung vom Emigrantenalltag in New York, von der "sterbenstraurigen Heimatlosigkeit" und vor allem von der Erfolglosigkeit der Emigranten, von den Bitternissen des Vergessen-Werdens, und den vielen kleinen Niederlagen.

Es sind dunkle Erzählungen von Emigranten, "die nach dem Krieg nicht mehr in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt waren, jüdische und christliche, Menschen von oben und unten, politische und sogenannte Wirtschaftsemigranten. Sie waren der übriggebliebene Rest gewaltsam Entwurzelter - - -".

Emigrantenpanorama#

Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" steuerte damals einen kleinen Verriss bei: "Die Handlung beginnt mit breiten Salongesprächen, Erinnerungen an Jugend und politische Vergangenheit, stürzt dann ins alkoholisch Ordinäre und gerät am Ende sehr ins pathetisch Sentimentale", und Grafs erster Biograph, Rolf Recknagel, warnt erschrocken davor, das Buch als Schlüsselroman zu verstehen. Andererseits legt uns Jean Améry gerade diesen Roman Grafs ans Herz, weil in keinem anderen "die schicksalshafte Unseligkeit der Diasporiten" besser und genauer geschildert werde.

Lassen wir also am Ende Graf selbst zu Wort kommen. Im Gewühl der Steinwüste New York hat sein Romanheld, der Martin Ling heißt, nur noch "einen Wunsch: sich in einem unauffindbaren Winkel zu verkriechen und abzusterben, zu zerbröckeln und sich aufzulösen wie ein weggeworfenes Stück Schund und mit dem Regen davonzuschwimmen in die Unkenntlichkeit". Ling findet das Manuskript eines Freundes und erkennt sich in dessen Geschichte wieder: "Recht hat er in allem! Ein eingebildeter, kleiner, dummer, geiler alter Wicht bin ich, mit einem schlechten Charakter! . . . Aber erschießen werde ich mich nicht! . . . Leben will ich, versteht ihr? Alles andere ist Humbug! Leben will ich wie jeder andere, wie einer vom Haufen! Einfach leben und mittelmäßig sein, sonst nichts, gar nichts!"

Das ist nicht pathetisch sentimental, sondern ein Splitter aus einem melancholischen Emigrantenpanorama, wie wir es in der ganzen Exilliteratur nur einmal finden; ein großer, ein moderner, vielleicht auch ein "mißlungener", jedenfalls ein vergessener Roman, mit dem Graf in seiner Stimmenvielfalt präsent wäre: der große Erzähler, der sich manchmal die Narrenmaske aufsetzte, und der Revolutionär, der auch an hergebrachten Formen und Erzählungen rüttelte.

Michael Rohrwasser, geb. 1949, ist Literaturwissenschafter und emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien.

Wiener Zeitung, Sonntag, 18. Juni 2017


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