„Gassenkind“ im Herzen #
In einer Zeit der gnadenlosen Vereinzelung erscheint seine Lehre plötzlich hochgradig aktuell: Zum 150. Geburtstag von Alfred Adler, einem Urvater der modernen Psychologie. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (6. Februar 2020)
Von
Martin Tauss
Die ersten sieben Lebensjahre verbrachte er im wilden Rudolfsheim, am Rande der Stadt. Wiesen, Felder, unbebaute Grundstücke prägten in den 1870er Jahren das Gebiet von der Mariahilferstraße bis Penzing und Schloss Schönbrunn. Als „Gassenkind“ war Alfred Adler viel draußen unterwegs: Die Wiener Vorstadtkinder liebten es, in Gruppen zu spielen und das Brachland zu erkunden. Adler, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, war ein beliebter Spielgefährte.
Doch der Sohn eines jüdischen Kaufmanns wurde auch deshalb an die frische Luft geschickt, weil er an Rachitis litt. Immer wieder plagten ihn Angstattacken, bei denen es zu einer Verengung der Stimmritzen kam. Und bereits mit fünf Jahren hatte er den Tod vor Augen, als er an einer schweren Lungenentzündung erkrankte. „Plötzlich durchfuhr mich ein fürchterlicher Schrecken, und wenige Tage später, nachdem es mir wieder gut ging, fasste ich den festen Entschluss, Arzt zu werden, um mich besser gegen die Todesgefahr zu wehren und mit besseren Waffen, als sie mein Doktor hatte, gegen den Tod zu kämpfen“, erinnerte er sich später.
Tatsächlich fällt es nicht schwer, die großen Motive von Adlers Lebenswerk in seiner eigenen Biographie, und zwar bereits in jungen Jahren, zu identifizieren: Das Gefühl von Freundschaft und Zusammenhang, Gemeinschaft und Solidarität erkannte er rückblickend als Keimzelle seiner psychologischen Lehre. Doch da ist auch noch der Kampf gegen die Ohnmacht, gegen das Gefühl von Minderwertigkeit und die Suche nach Wegen der Kompensation.Und das frühe Interesse am Zusammenspiel von Körper und Geist, das ihn zum Pionier der Psychosomatik machte. „Jeder Begründer einer Psychotherapierichtung“, so der Arzt Viktor Frankl, selbst Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, „hat in seinen Büchern eigentlich nur seine eigene Krankengeschichte geschrieben und dabei die Probleme zu lösen versucht, die er selbst durchgemacht hat“. Auf Alfred Adler, den Begründer der Individualpsychologie, trifft diese Aussage jedenfalls zu.
Interaktion auf Augenhöhe #
Das zeigt Alexander Kluy in seiner großen Biographie des Wiener Arztes, die zielgenau im Vorfeld von Adlers 150. Geburtstag erschienen ist. Der deutsche Autor und Journalist hat dafür umfangreiches Material gesichtet, darunter auch Archive in London, Wien und Washington. Kluy verortet Adlers Leben, Werk und Familiengeschichte in einem großen zeithistorischen Panorama, das 1835 mit der Geburt von Adlers Vater im burgenländischen Kittsee beginnt und 2011 mit der Überführung der sterblichen Überreste Alfred Adlers von Aberdeen nach Wien schließt. Kluy begreift das 20. Jahrhundert als „überlanges Jahrhundert der Psychologie“, das in der Donaumetropole seinen Anfang und sein Ende nimmt: von Sigmund Freuds epochalem Werk „Die Traumdeutung“, das 1899 veröffentlicht, aber vom Autor auf das Jahr 1900 nachdatiert wurde, bis hin zur feierlichen Beisetzung von Adler auf dem Wiener Zentralfriedhof. Dort markiert heute eine große, kantige Stele sein Ehrengrab.
Immer wieder versteht es Kluy, historische Episoden vor dem Auge des Lesers lebendig werden zu lassen: In der legendären „Mittwochsgesellschaft“ etwa lud Sigmund Freud einst seine erlauchten Gäste zur Diskussion – Vertraute, Jünger und Adlaten; Ärzte, Pädagogen und Schriftsteller. „Seelenbohrungen“ wollten sie anstellen, wie Pioniere auf bislang unbekanntem Terrain. Man spürt, wie die Atmosphäre knistert, wie sich der Rauch der Zigarren und Zigaretten in Freuds Wohnung zu einem grauen, fast schon undurchdringlichen Nebel zusammenballt. Auch Alfred Adler, ebenso passionierter Raucher, war dort von Anfang an geladen. Doch er verblieb nicht in dieser „Tafelrunde“ rund um den neuen „Propheten“, wie Kluy bemerkt. 1911 kam es zum Bruch mit Freud, denn Adler entwickelte andere Ansichten über die unbewussten Triebkräfte im Menschen als der große Ahnherr der Tiefenpsychologie.
Wichtiger und gefährlicher als die Umtriebe der Libido und sexuellen Energien sei das unbewusste Streben nach Macht bzw. ein übersteigerter Geltungstrieb, so die Überzeugung von Adler, der sich schon früh auch politisch, im Sinne des Sozialismus, engagierte. Nur folgerichtig, dass der schnauzbärtige Wiener Arzt auch in der Therapie selbst kein Oben und kein Unten mehr gelten lassen wollte. Das führte zur Abschaffung der Freudschen Couch: In Adlers Therapierichtung sitzen sich Behandler und Patienten/Klienten gegenüber und interagieren auf Augenhöhe.
Ausflüge in die Kulturgeschichte #
Wie Freud dachte auch Adler weit über die Therapie hinaus. Und auch er scheute nicht vor Ausflügen in die Kunst- und Kulturgeschichte zurück. In seiner Schrift über die „Minderwertigkeit von Organen“ verdeutlichte er die Kraft der Kompensation und berichtete von brillanten Malern, die mit einem minderwertigen Sehapparat zu kämpfen hatten (z. B. Manet); von begnadeten Musikern mit Hörverlust (z. B. Beethoven) und von Stotterern wie Demosthenes, der letztlich zum großen Redner des antiken Griechenlands wurde. Das breite Themenspektrum in seinem Werk führte dazu, dass sich heute nicht nur Mediziner und Psychologen, sondern auch Pädagogen oder Theologen als „Adlerianer“ begreifen.
Wer Adlers Werk auf Erziehungsfragen hin durchleuchtet, wird schnell merken, wie modern sein Denken bereits war. Er betrachtete Frauen und Männer als gleichwertig und richtete die ersten Erziehungsberatungsstellen ein. In seinem Werk wurde die ideale Gemeinschaft zum finalen Ziel: „Die Anschauungen unserer Individualpsychologie verlangen den bedingungslosen Abbau des Machtstrebens und die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls“, schrieb er 1922 im Vorwort zur dritten Auflage seines Werkes „Über den nervösen Charakter“. Kluy zeigt, wie sich der Begriff des „Gemeinschaftsgefühls“ um diese Zeit zum zentralen Terminus der individualpsychologischen Theorie entwickelt: „Alle anderen Termini richteten sich wie Eisenspäne auf die magnetische Sinn-Kraft dieses Wortmarkenfeldes aus (...). Gemeinschaftsgefühl plus Mitmenschlichkeit waren für ihn Leitkriterien für ein gelingendes Leben.“ Dass dieser Begriff auch heute, in einer Zeit der gnadenlosen Vereinzelung, attraktiv erscheint, liegt auf der Hand. „Adlers heilende Theorien der Psyche sind virulent für zersplitternde Gesellschaften, in denen sich Separationsdebatten, Rückzugsmanöver, Einigelungsaktionen und Auflösungsprozesse vollziehen“, so Kluy. Umso mehr in einer Zeit, so wäre hinzuzufügen, wo durch soziale Medien ein neuartiger Raum der öffentlichen Enthemmung, Beschämung und Abwertung eröffnet worden ist. Insofern mahnt Kluy völlig zu Recht die Aktualität dieses Denkers ein, der als Pionier der Tiefenpsychologie oft noch im Schatten seiner Zeitgenossen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung steht.
Vor dem Hintergrund von Adlers Visionen ist der Begriff der „Individualpsychologie“ freilich eher ungünstig gewählt. 1913 hatte Adler den Entschluss getroffen, seine Schule unter diesem Begriff zu subsummieren. Er wollte damit eben nicht nur das Individuum adressieren, sondern eine umfassende Ganzheit zum Ausdruck bringen: Denn „In-dividuum“ ist wörtlich genommen das Unteilbare, und der Mensch ist für Adler stets ein soziales Lebewesen. Bis heute wird dieser Begriff bedauert, weil er leicht falsch verstanden werden kann. Im Abschlusskapitel versucht Kluy nachzuweisen, dass Adlers Theorien auch dem aktuellen Blick der Wissenschaft weitgehend standhalten und, bei großzügiger Deutung, vielerorts bestätigt worden sind – von der Bindungstheorie bis zur Hirnforschung. So wurde etwa Einsamkeit als gesundheitlicher Stressfaktor erkannt; umgekehrt kann das Gefühl der sozialen Verbundenheit schmerzlindernd sein und präventiv gegen Depressionen wirken, wie jüngere Studien zeigen.
Alexander Kluy hat mit der vorliegenden Biographie sicherlich ein Grundlagenwerk geschaffen. Doch trotz aller Faktenfülle bleibt das Porträt von Alfred Adler mitunter ein wenig oberflächlich. Darüber kann auch die überbordende Allgemeingeschichte, die in der Biographie zu finden ist, nicht hinwegtäuschen. Zum Menschen Adler wirklich durchzudringen, war offensichtlich nicht so einfach. Manche Fragen bleiben offen – zum Beispiel Adlers Gedanken zum Ersten Weltkrieg oder die mögliche Diskrepanz seiner Lehre mit seinem Privatleben. Adler war mit der Russin Raissa Epstein verheiratet und hatte vier Kinder. Doch Zeit, sich um die Familie zu kümmern, blieb dem notorischen „Arbeitstier“ wenig. Bis zuletzt tourte er mit Vorträgen um die Welt. 1937 verstarb er 67-jährig an den Folgen eines Herzinfarkts in Schottland. Sein Werk verdient nun zweifellos eine Renaissance.
Alfred Adler. Die Vermessung der menschlichen Psyche. Biographie
Von Alexander Kluy
DVA 2019 432 S., geb.,
€ 28,80