"Halb Genie, halb Trottel"#
Anton Bruckner war ein innovativer Komponist und ein schwieriger Mensch. Während der "Brucknertage", die jeden Sommer in St. Florian stattfinden, wird sein musikalisches Werk in vorbildlicher Weise präsentiert.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 13. August 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Katharina Wappel
"Es irrt der Mensch, solang er strebt", lässt Goethe in seinem "Faust" Gott dem Mephisto zuflüstern. Auch große Komponisten sind davor nicht gefeit: auf Bruckner etwa passt dies wie die Faust aufs Aug. Als "zwiespältig" bezeichnet ihn die Nachwelt, aber auch schon seine Zeitgenossen urteilten ähnlich. Kaum eine Biographie, die zur Untermauerung dessen nicht das berühmte Zitat "Bruckner, ein einfältiger Mensch, halb Genie, halb Trottel" anführt, um es - je nach Einstellung des Autors - zu widerlegen oder zu bekräftigen. Dieses Zitat wurde meist Gustav Mahler zugeordnet, der Musikwissenschafter Hans-Joachim Hinrichsen nennt nach einiger Recherchearbeit jedoch den Dirigenten Hans von Bülow als dessen Urheber. Es spiegelt die Wahrnehmung Bruckners durch die Außenwelt wider.
So genial Bruckner sich in seinen Kompositionen zeigte, so schwer fiel es ihm, im sozialen Leben zurechtzukommen, wofür ihm immer wieder Spott zuteil wurde. Denn glaubt man den Überlieferungen, war Bruckner ein seltsamer Kauz. Mit dem Leben im Irdischen hatte er zu hadern, alles Darüberhinausgehende projizierte er in seine Musik. So war es ihm möglich zu überleben, die Leiden seines tristen Daseins zu ertragen.
Liebe, Sünde und Tod#
Bruckner war sehr gläubig, in sozialen Beziehungen übertrieben unterwürfig und ungeschickt im Umgang mit Frauen und vor allem Mädchen (er verliebte sich meist in junge Mädchen). Seine Annäherungsversuche und Heiratsanträge wurden stets abgelehnt, man vermutet, dass Bruckner sein Leben lang sexuell enthaltsam gewesen ist - er selbst berichtet, nur einmal ein Mädchen geküsst zu haben, was er später als Sünde bereute.
Er hatte eine bizarre Nähe zum Tod, zu Leichenzügen und Hinrichtungen. Leichname zogen sein Interesse auf sich, hie und da stolpert man in der Literatur sogar über das Wort Nekrophilie. So hatte er beispielsweise darauf bestanden, den Leichnam Maximilians, des Kaisers von Mexiko, zu sehen, ("Auch während meiner Krankheit war dieß das Einzige, was mir so am Herzen lag; es war Mexico, Maximilian. Ich möchte um jeden Preis gerne die Leiche Maximilians sehen"), ebenso wohnte er der Exhumierung von Beethovens Leichnam bei, bei der er in einer seltsamen Erregung und trotz Verbots der Ärzte dessen Schädel in die Hand nahm und auf ihn einsprach.
Die Diskrepanz zwischen seiner merkwürdig erscheinenden Persönlichkeit und seiner erhabenen Musik wurde bereits von seinen Zeitgenossen bemerkt. Diese Irritation hat sich bis heute gehalten, gerne würde ein Teil der Brucknerforschung seine Persönlichkeit und sein Werk in Einklang bringen. Der andere Teil fordert die strikte Trennung. Unermüdlich aber versuchen sowohl die einen als auch die anderen, dem wahren Charakter Bruckners auf die Schliche zu kommen, de facto bleiben es jedoch nur unterschiedliche Deutungen der immer gleichen Quellen, von Briefen, Tagebüchern, Notizen. Auffällig oft bleibt man im Anekdotischen hängen.
Daneben gibt es natürlich seine Musik. Musik, die durch ihr revolutionäres Gewand den von Wagner und Brahms geprägten Geschmack des 19. Jahrhunderts vor den Kopf stieß. Konkret wurde ihm von seinen Kritikern (federführend waren der bedeutende Musikkritiker Eduard Hanslick sowie Johannes Brahms) vorgeworfen, dass es seiner Musik an Form und Logik fehle, der Ausdruck unnatürlich sei. Bruckner imitiere Wagner und übertrage lediglich dessen dramatischen Stil auf die Symphonik. Seine Musik blieb großteils unverstanden und Bruckner - auch wenn er mit seiner 7. Symphonie doch noch den Durchbruch schaffte - verkannt. Lange Zeit wurden seine Werke in stark gestrafften und überarbeiteten Versionen aufgeführt. Unspielbar, so hieß es.
Zwiespältig ist auch die Wahrnehmung Bruckners in der Geisteswissenschaft. Wittgenstein, der sich über Bruckner viele Gedanken machte, formulierte es so: "Ich glaube, das gute Österreichische (Grillparzer, Lenau, Bruckner) ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit."
Das Mystische#
Tatsächlich sucht die Musik Bruckners, was man Wittgenstein folgend "das Unwahrscheinliche" nennen könnte. Vielleicht wirkt sie dadurch so manchem unverständlich und sperrig. Gleichzeitig entfaltet die Musik eine unmittelbare Wirkung, wenn man sich ganz auf sie einlässt. Vielleicht entspricht das dem, was Wittgenstein auch "das Unaussprechliche" nennt, das "Mystische".
Daneben gibt es auch kritische Stimmen. So scheut sich etwa Thomas Bernhard nicht, Bruckner in "Alte Meister" gemeinsam mit Adalbert Stifter gänzlich zu vernichten: "Mit Anton Bruckner ist es ähnlich, sagte Reger, der ist in seiner perversen Gottesfurcht katholizismusbesessen aus Oberösterreich nach Wien gegangen und hat sich dem Kaiser und Gott total ausgeliefert. Auch Bruckner war kein Genie. Seine Musik ist konfus und genauso unklar und genauso stümperhaft wie die Prosa von Stifter. Aber während Stifter heute, streng genommen, nurmehr noch totes Germanistenpapier ist, rührt Bruckner inzwischen alle Leute zu Tränen."
Bernhard spricht weiters vom "Brucknerschen Töneschwall", von "verlogener Pompösität", heißt Bruckner einen "Musikverwischer" und unterstellt ihm, in typisch Bernhardscher Manier, lediglich "kompositorischen Müll" erzeugt zu haben.
Glücklicherweise hat sich diese Meinung nicht durchgesetzt. Nach Jahrzehnten der Verstümmelung und Beschneidung seines Werks hat man die Kunst dieses "Musikverwischers" doch zu schätzen gelernt. Heute gibt es wieder Leute, die sich dafür einsetzen, dass das musikalische Werk Bruckners in angemessenem Rahmen wirken kann. All das an einem Ort, der für Bruckner Fluch und Segen zugleich bedeutete - und an dem er heute begraben liegt: im Stift St. Florian.
Leben und Nachleben#
Die Jahre in St. Florian (von 1845 bis 1855) haben Bruckner geprägt und waren für sein weiteres musikalisches Tun von Bedeutung; allerdings beeinflussten sie auch seinen Charakter, seine gottesfürchtige Untertänigkeit wurde hier vorangetrieben - wie Brahms es später pointiert ausdrückte: "Den haben die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen."
Bruckner war 21 Jahre, als er in die Dienste des Stiftes trat, nachdem er bereits einmal, acht Jahre zuvor, nach dem Tod seines Vaters, als Sängerknabe ins Stift gekommen war. Die zehn Jahre, die er hier verbrachte, waren unglücklich. Zwar komponierte er neben seiner Tätigkeit als Stiftsorganist, trieb seine Klavier- und Orgeltechnik voran und studierte nebenbei Kontrapunkt. Doch die so innig ersehnte Anerkennung für sein Tun wurde ihm hier nicht zuteil. In Briefen ließ er seinem Frust freien Lauf: "Ich habe hier gar keinen Menschen, dem ich mein Herz öffnen dürfte, werde auch in mancher Beziehung verkannt, was mir oft heimlich sehr schwer fällt. Unser Stift behandelt Musik und folglich auch Musiker ganz gleichgültig . . . Ich kann hier nie heiter sein und darf von Plänen nichts merken lassen."
Dennoch trennte Bruckner sich nie wirklich von diesem Ort, er wünschte gar, hier begraben zu werden, einbalsamiert, der Sarg im Raum stehend. So geschah es. Daran lässt sich erkennen, dass der Geist von St. Florian ihn doch stark beeindruckt haben dürfte.
Dieser Geist, das Zusammenspiel von Kultus, Wissenschaft und Musik lebt in St. Florian auch heute noch auf, besonders einmal im Jahr, wenn die Brucknertage im Stift Einzug halten.
Die Veranstalter sind ehrenamtlich tätig, aus Liebe zu Bruckners Musik und ein wenig auch aus Mitleid mit ihm und seinem verkorksten Leben. Klaus Felix Laczika, Gründer der Brucknertage und deren künstlerischer Leiter, meint dazu: "Man hat Mitleid mit so einem vom Schicksal Gestraften. Man hat das Gefühl, man muss ihn trösten. Wir spielen immer für ihn, während er im selben Raum gemütlich hinten unten liegt und mit den Zehen wackelt und beim Zuhören lächelt."
Eine Symphonie Bruckners steht jährlich im Zentrum dieses klassischen Musikfestivals. Sie wird von allen Seiten beackert und beleuchtet. Symposien behelligen die Köpfe tagsüber, musikalische Aufführungen allabendlich das Gemüt. Die Qualität ist außerordentlich, derart, dass sich internationales Publikum einfindet, Bruckner-Spezialisten aus aller Welt, die nur hier finden, was sie suchen: den Geist der Brucknerschen Musik, der sich in voller Pracht entfalten kann.
Wohlig das Gefühl, dass diesem seltsamen, frommsten aller Landtölpel hier endlich die Ehre zuteil wird, die ihm sein ganzes Leben lang verwehrt wurde. Schließlich sind die Brucknertage inzwischen, wie die amerikanische Brucknergesellschaft feststellt, "becoming the most important annual concert event celebrating Bruckner’s life and work".
Die ungeliebte Sechste#
Die Akustik im Stift muss man zu nützen wissen, denn sechs Sekunden Nachhall machen es den Musikern nicht leicht. Nach Sergiu Celibidache, der hier schon dirigierte, hat man sich 2011 nun bei der orchestralen Aufführung der Symphonien, jeweils der Höhepunkt der Brucknertage, für den französischen Dirigenten Rémy Ballot entschieden, den man seither nicht mehr gehen lässt. Die Aufnahmen der Konzerte unter seiner Leitung werden mit Preisen überhäuft, von Kritikern umjubelt.
Dieses Jahr ist die sechste Symphonie an der Reihe, das Stiefkind der Symphonien Bruckners. Ungeliebt, wenig gespielt, unverständlich. Ballot zeigt, dass man es auch anders sehen (und hören) kann: "Es ist eine Darstellung des Lebens, in dem diesmal nicht das Göttliche im Zentrum steht - und zwar ganz bewusst." Eine irdische Symphonie also - vielleicht kommt sie der Person Bruckner am nächsten, denn in ihr steht der Mensch im Zentrum. Das Göttliche muss sich noch bis zur Neunten gedulden ("dem lieben Gott gewidmet"), bei der man das Erhabene besonders deutlich spürt. Mahlers Aussage - "Das Wichtigste an der Musik steht nicht in den Noten" - zeigt sich bei Bruckners Musik besonders deutlich.
Diesmal also die Sechste. Auf zwei Klavieren, im Ensemble, im Orchester. Kein Blickwinkel wird ausgelassen, keiner der Sinne bleibt unerfüllt. Im Gegensatz zu Brahms, dessen Musik laut Bruckner lediglich beruhigende Wirkung zeige, wollte er selbst Musik schreiben, die die Leute packt. Bei den Brucknertagen in St. Florian wird dem Rechnung getragen. Und wenn Brahms in Bruckners Werk "einen Schwindel, der in ein bis zwei Jahren todt und vergessen sein wird" sah, darf man heute zufrieden aufseufzen. Nicht nur ein Bruckner oder ein Bernhard, auch ein Brahms kann manchmal irren.
Katharina Wappel, geboren 1986, Romanistin und Germanistin, schreibt als freie Musikkritikerin für die "Wiener Zeitung".