Das Ohr sitzt mitten im Herzen#
Die Musikwelt hat einen ihrer leidenschaftlichsten Entdecker und Fürsprecher verloren. Nikolaus Harnoncourt ist tot.#
Von der Wiener Zeitung (Sonntag, 6. März 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Judith Belfkih
Wien. Das Hören selbst wollte er revolutionieren. Lieb gewonnene Gewohnheiten aufbrechen, gegen den Strich bürsten. Durch neue Sichtweisen die Musik mit ihren eigenen Mitteln aus sich selbst heraus revolutionieren. Klang zu seinem vermeintlichen Ursprung zurück führen. Den einen vergänglichen Augenblick kompromisslos zelebrieren, in dem Musik lebendig wird, indem sie erklingt.
Dass man als Zuhörer bekannte Werke in seinen Konzerten wie zum ersten Mal hörte, war das Resultat dieser jahrzehntelangen Arbeit. Die Beinamen Pionier, Erneuerer und Revolutionär schmückten seinen Namen früh. Mit seinem unermüdlichen, unerbittlichen und stets leidenschaftlichen Blick hinter die Noten hat er Musikgeschichte geschrieben und die gängige Aufführungspraxis sowie das Selbstverständnis von Klang für Generationen von Musiker und Konzertgeher verändert wie nur wenige Musiker. Am vergangenen Samstag ist Nikolaus Harnoncourt im Alter von 86 Jahren in Wien verstorben, friedlich entschlafen im Kreise seiner Familie. Mit ihm ist nicht nur ein großer Dirigent verstummt, sondern eine unverwechselbare Stimme aus der immer kommerzieller werdenden Welt der Klassik.
Von der Konzertbühne zurückgezogen hatte sich Nikolaus Harnoncourt bereits im Dezember 2015, hatte seinem Publikum das Ende einer "glückliche Entdeckergemeinschaft" bekannt gegeben. Er tat das mit einem handgeschriebenen Brief, den er als Faksimile dem Programmheft eines Konzerts des von ihm gegründeten und geleiteten Concentus Musicus beilegen ließ. Die Art und Weise, wie er diesen Rücktritt vollzog, war bezeichnend für den großen Musiker. Persönlich, emotional, glasklar, konsequent. Denn unerbittliche Leidenschaft und ebenso unbeirrbare Konsequenz zeichneten alle künstlerischen Aktivitäten Harnoncourts aus. Ein Mann des Kompromisses war er nie. Mit vollem Einsatz für die Sache oder gar nicht. Dazwischen gab es bei Harnoncourt nie einen Graubereich.
Nikolaus Harnoncourt hat Musik für viele Hörer zu dem gemacht, was sie ihm immer war: eine höchst dringliche Herzensangelegenheit. Diese Herzensangelegenheit voranzutreiben und immer wieder neu zu befeuern, dieses stete Unterfangen wurde zudem von einer schier unermüdlichen Kraft vorangetrieben: der schier unendlichen und stets feurigen Neugier des Nikolaus Harnoncourt. Und auf seine neugierigen musikalischen Abenteuerfahrten nahm der Cellist und Dirigent sein Publikum immer wieder mit. Es folgte ihm dankbar - mitunter geduldig - auch in die noch so verborgenen Winkel so mancher Partitur. Ob ein vergessen geglaubtes Werk oder eine neue Sicht auf Altbekanntes: Zu entdecken gab es mit Nikolaus Harnoncourt immer etwas.
"Musik als Klangrede", "Töne sind höhere Worte" und "Vom Denken des Herzens"¨ – schon die Titel der Bücher von und über Nikolaus Harnoncourt geben einen Blick frei auf dessen Gedankenwelt. In seinen musikphilosophischen Schriften und Aufsätzen eröffnete er einen Kosmos vergessener Werke und verschütteter Klangerfahrungen. Auf einen Exkurs in sein theoretisches Wissen mussten sich auch Konzertgeher einstellen. Und Harnoncourts spontane Einführungen erwiesen sich als stets lohnend für das Konzerterlebnis und eröffneten ungeahnte Tiefenschichten.
Bequem war Harnoncourt definitiv nie. Nicht als Dirigent und wohl auch nicht für sich selbst. Er verteilte sein eigenes Stimmmaterial, in dem "tradierte" Fehler ausgemerzt und die für seine Interpretation wesentlichen Vortragszeichen eingetragen waren. Er war in jeder Minute seines Dirigentenlebens präsent und unermüdlich. Nur eine Proben, das gab es für ihn nicht. Seine Kollegen verblüffte und beschämte er mitunter mit seiner sagenhaften Disziplin. Mit seinem kompromisslosen und bedingungslosen Leben für den Augenblick. Für diesen einen, vergänglichen Augenblick, in dem Musik erklingt. Diesem flüchtige Erklingen setzte er unvergessliche Denkmäler.
Um seinen Musikern verständlich zu machen, welche klangliche Vision er vor Augen hatte, griff er zu ungewöhnlichen sprachlichen Bildern. "Das muss ganz schwer herauskommen", konnte er da den Chor anweisen, "fühlt’s euch doch einmal wie ganz alte Zahnpasta in so einer Tube." Er bat das Orchester, die "Töne wie an einem unsichtbaren Faden nach oben" zu ziehen. Oder sich beim Spielen vorzustellen, "mit einem Fuß in einer Frühlingswiese" zu stehen.
Die Karriere als Musiker war nicht Harnoncourts erste Wahl. Seine erste Liebe galt dem Marionettentheater. Bereits als Jugendlicher schnitzte er Puppen, klebte Kleider, baute Bühnen, gab Vorstellungen. Nach 20 Aufführungen war Schluss. Er würde nicht davon leben können, rechnete sich der junge Harnoncourt aus.
Am 6. Dezember 1929 als Johann Nicolaus de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt in Berlin geboren, übersiedelte die Familie aus luxemburgisch-lothringischem Hochadel 1931 nach Graz. Ab 1945 erhielt er Cello-Unterricht. 1949 gründete er mit Eduard Melkus, Alfred Altenburger und Alice Hoffelner das Wiener Gamben-Quartett und wandte sich der Erforschung von Spielweise und Klang alter Instrumente zu. Drei Jahre später wurde er Cellist der Wiener Symphoniker. Diesen Beruf übte er bis 1969 aus.
1953 wurde zu einem prägenden Jahr Harnoncourt. Zum einen heiratete er seine Partnerin Alice Hoffelner. Und im Herbst desselben Jahres erfolgte die Gründung des Concentus Musicus Wien, mit dem eine neue Ära der Musikinterpretation eingeleitet wurde. Auch wenn das Ensemble sich erst Jahre nach der Gründung der – anfangs gar nicht so einstimmig begeisterten und mehr als skeptischen – Öffentlichkeit präsentierte. Zudem begann Harnoncourt historische Instrumente zu sammeln, was die sechsköpfige Familie zu teils rigorosem Verzicht zwang: "Für Musikinstrumente haben wir fast alles getan."
Neben Konzerten und Plattenaufnahmen mit seinem Ensemble, begann Harnoncourt 1972 auch zu dirigieren. Die Oper in Zürich, die Wiener Philharmonikern und die Salzburger Festspiele - Harnoncourt gastierte bei namhaften Orchestern und Festivals weltweit. Er realisierte in Zürich seine legendären Monteverdi- und Mozart-Zyklen, war bis zu seinem Rückzug im Wiener Musikverein und bei dem ihm gewidmeten steirischen Festival styriarte präsent. Er wählte genau, mit wem er arbeitete und verzichtete bewusst auf die Position eines Chefdirigenten, wollte seine musikalische Freiheit nicht aufgeben.
"Es wird Vieles bleiben", zog er in seinem Abschiedsbrief an sein Publikum selbst Bilanz über ein erfülltes Musikerleben. Nikolaus Harnoncourt wird fehlen.